Meinung

Krieg in Gaza: Berechtigte Zweifel

Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Doch Einwände gegen sein Vorgehen sind legitim.

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Die Debatte, ob Israel den Krieg in Gaza fortsetzen soll, beziehungsweise darf, wird am lautesten von Leuten geführt, die Israel zu hundert Prozent zustimmen, und von Leuten, die Israel zu hundert Prozent widersprechen. Falls Sie zu einer dieser beiden Gruppen gehören, werden Sie mit diesem Kommentar wenig Freude haben.

Eine Woche nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober schrieb ich im profil-Leitartikel: „Die Hamas, die Täter und Drahtzieher des genozidalen Angriffs auf Israel müssen ausgeschaltet werden. Niemand, der bei klarem Verstand ist, kann bestreiten, dass Israel das Recht dazu hat.“ Stimmt das noch?

Prinzipiell ja. Man kann von Israel schwer verlangen, die Kampfhandlungen einzustellen, solange die Hamas Raketen auf Israel abfeuert, Terroranschläge auf israelischem Territorium verübt und 140 Geiseln in ihrer Gewalt hat.

Dennoch drängen sich Einwände auf. Als Premierminister Benjamin Netanjahu zu Beginn des Krieges schwor, die Hamas auszulöschen, nahm man an, Armee und Geheimdienste hätten ausreichend gute Informationen, um dies zu bewerkstelligen. Mittlerweile muss das bezweifelt werden.

Die Führungsriege der Hamas – Yahya Sinwar, Hamas-Chef in Gaza, und dessen Bruder Mohammed sowie Mohammed Deif, Befehlshaber der Kassam-Brigaden, und dessen Stellvertreter Marwan Issa – konnte in acht Kriegswochen nicht aufgespürt werden. Auch die Vermutungen, wo sich die Kommandozentrale der Hamas befinde, erwiesen sich als irrig. Und Geiselbefreiung ist der Armee bisher auch noch keine gelungen.

Was die Israelischen Streitkräfte (IDF) erwartungsgemäß schaffen, ist, den Gazastreifen unter ihre Kontrolle zu bringen, Hamas-Kämpfer zu töten und Tunnels zu zerstören. Der Preis, den die palästinensische Zivilbevölkerung dafür bezahlt, ist enorm. Die Gesundheitsbehörde der Hamas spricht von rund 15.500 Toten und weiteren 7000 Verschütteten, davon zwei Drittel Frauen und Kinder. Israel bestreitet diese Zahlen. Die Bilanz ist jedenfalls so dramatisch, dass die USA – der engsten Verbündeten Israels – die Regierung Netanjahu dazu drängen, bei der Kriegsführung mehr Gewicht auf die Schonung der Zivilbevölkerung zu legen.

Es macht einen Unterschied, ob Journalisten zu solchen Schlüssen kommen oder der US-Verteidigungsminister. Er verfügt über alle wesentlichen Informationen aus erster Hand. Lloyd Austin warnt Israel auch davor, die palästinensische Bevölkerung in die Arme des Feindes zu treiben, und so „einen taktischen Sieg in eine strategische Niederlage zu verwandeln“.

Das Schlimmste wäre, wenn Israel wesentliche Kriegsziele nicht erreicht – die Befreiung aller Geiseln, die Zerschlagung der Führungsstruktur der Hamas – und gleichzeitig noch mehr Hass der Palästinenser auf sich zieht als ohnehin schon vorhanden.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austins Warnung bleibt ungehört.

Man muss der israelischen Militärführung zugestehen, dass sie versucht, Zivilistinnen und Zivilisten aus der Schusslinie zu bringen. Der Gazastreifen ist in mehr als 600 Planquadrate unterteilt, und die Bevölkerung wird jeweils informiert, wo die Armee angreifen wird. Allerdings sind mittlerweile 1,8 Millionen Menschen innerhalb des Gazastreifens vertrieben, und viele schaffen es nicht, auf Zuruf erneut das Planquadrat zu wechseln. In den Süden zu flüchten, war bereits schwierig genug. Und jetzt? Wo sollen sie unterkommen? Wie die Matratzen und die Kochstelle mitnehmen?

Wer nicht mehr weiterkann und deshalb bleibt, riskiert, unter Beschuss zu kommen. Die IDF greifen mit schweren Waffen in dicht besiedelten Gebieten an – derzeit in der Stadt Chan Junis. Die Maßnahme zum Schutz der Palästinenser reicht nicht aus.

US-Verteidigungsminister Austin verlangt von Israel auch, die Hilfslieferungen an die Bevölkerung in Gaza dramatisch zu erhöhen. Es ist tatsächlich nicht nachvollziehbar, wieso die Regierung Netanjahu nicht dafür sorgt, dass die Zahl an Lkw, die mit Lebensmitteln und medizinischen Gütern über die ägyptische Grenze bei Rafah kommen, konstant hoch bleibt. Menschen in Gaza, mit denen profil in Kontakt ist, berichteten vergangene Woche, dass an manchen Tagen gar nichts zu essen aufzutreiben ist.

US-Vizepräsidentin Kamala Harris wiederum sagte auf ihrer Nahost-Reise vergangene Woche, dass die USA niemals eine „Zwangsumsiedlung von Palästinensern aus Gaza oder dem Westjordanland, eine Belagerung von Gaza oder eine neue Grenzziehung“ zulassen würden. Warum muss Harris das betonen? Weil die Regierung Netanjahu der palästinensischen Bevölkerung diesbezüglich bisher keinerlei Zusicherung macht. Auch das ist ein schweres Versäumnis.

Schlimmer noch, dahinter steckt offensichtlich Absicht. Es ist – leider – keine Überraschung: Niemand ist schlechter geeignet und weniger willens, der palästinensischen Bevölkerung Hoffnung auf eine halbwegs lebenswerte Zukunft zu machen, als die amtierende israelische Regierung.

Lloyd Austins düstere Warnung vor einer strategischen Niederlage Israels bleibt ungehört.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur