Wollen uns die Muslime unterwerfen?

Masseneinwanderung erzeugt Mythen. Kennenlernen schafft Abhilfe.

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Die Einwanderer wurden misstrauisch beäugt. Sie gehörten einer fremden Religion an, folgten einer suspekten, ausländischen Autorität, lebten in parallelgesellschaftlichen Strukturen, und sie importierten aus ihrer Heimat eine ungekannte Form von schwerer Kriminalität, die den Staat unterlief. Kein Wunder, dass die Fremden, von denen innerhalb weniger Jahre drei Millionen ins Land gekommen waren, als kollektive Gefahr galten.

Nein, die Immigranten, die hier beschrieben werden, waren keine Muslime. Es handelt sich vielmehr um italienische Einwanderer, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die USA kamen. Ihre fremde Religion war der Katholizismus, die suspekte, ausländische Autorität der Papst, das parallelgesellschaftliche Ghetto heißt in New York bis heute „Little Italy“, und die kriminelle Seuche, die sie eingeschleppt hatten und die den Behörden schwer zu schaffen machte, nannte man „La Cosa Nostra“, die Mafia.

Aus der Distanz von mehr als 100 Jahren erkennt man besser, wie sehr Mythen und irrationale Ängste im Spiel sind, wenn eine Einwanderungswelle die Bevölkerung verunsichert.

Je besser wir die Immigranten kennen, die unter uns leben, umso eher gelingt es, diskriminierende Generalverdächtigungen zu zerstreuen – aber auch die wahren Gefahren, die von einzelnen Gruppierungen ausgehen, zu erkennen. profil versucht – nicht zum ersten Mal – mit der Titelgeschichte in diesem Heft einen Beitrag zu leisten. Darin erfahren Sie zum Beispiel, dass höchstens 30 Prozent der Muslimas in Österreich ein Kopftuch tragen, 15 Prozent aller Muslime die fünf Säulen des Islam befolgen und zehn bis 15 Prozent religiöse Normen über demokratische Prinzipien stellen. Vor allem aber wird klar, wie verschieden die etwa 800.000 Menschen sind, die als Muslime gezählt werden.

Nirgendwo in Europa bildet sich eine nennenswerte politische Kraft, die islamistische Ziele vertritt.

Einer der beharrlichen Mythen besagt, dass ein wachsender muslimischer Bevölkerungsanteil unweigerlich zu einer politischen und kulturellen Unterwerfung der bisherigen Mehrheitsgesellschaft führen werde. „Islamparteien in ganz Europa auf dem Vormarsch“, titelte die „Kronen Zeitung“ vor einem Jahr. Die Realität sieht allerdings anders aus. Die Liste „Free Palestine“, ein Zusammenschluss islamischer Parteien, die 2024 bei den Wahlen zum Europäischen Parlament antrat, erzielte in Frankreich, dem Land mit dem europaweit höchsten Anteil an Muslimen, exakt 14.986 Stimmen. Das entsprach 0,06 Prozent. Die „Migrantenpartei“ SÖZ, die bei der Gemeinderatswahl in Wien in diesem Jahr mit einer verschleierten Bürgermeisterkandidatin antrat, kam auf 0,84 Prozent.

Nirgendwo in Europa bildet sich eine nennenswerte politische Kraft, die islamistische Ziele vertritt. Ein solcher Masterplan der muslimischen Community existiert nur in dem Roman „Unterwerfung“ des französischen Autors Michel Houellebecq. Darin wird ein Muslim zum Staatspräsidenten gewählt, der die Republik Frankreich in eine Theokratie verwandelt. Houellebecq ist ein begnadeter Romancier und Provokateur. Seinen Romanplot als taugliche politische Prognose zu lesen, erweist sich als Irrtum.

All das bedeutet nicht, dass der Staat und die Gesellschaft nicht wachsam sein müssen. Der Islam des 21. Jahrhunderts ist in Teilen aggressiv, extremistisch, gewaltverherrlichend und totalitär. Die Staatsgewalt braucht Werkzeuge und Ressourcen, um islamistische Umtriebe im Keim zu ersticken. In Frankreich etwa stellten die Behörden fest, dass Mitglieder der Muslimbrüderschaft gezielt Vereine unterwandern. Ein neues Gesetz unterwirft alle Organisationen strengeren Regeln, sie müssen etwa einen „republikanischen Vertrag“ unterzeichnen – und sich daran halten. Das schützt nicht nur den Staat, sondern vor allem auch die Muslime.

Der jüngste einschlägige Skandal ereignete sich an der Universität Kiel, wo während einer „Islamwoche“ das Publikum nach Geschlechtern getrennt wurde. Dahinter stand eine kleine, der extremistischen Strömung des Salafismus zugerechnete Gruppierung. So etwas ist ein Fall für den Verfassungsschutz, aber kein Anlass für einen Generalverdacht gegenüber muslimischen Studenten.

Wer alle Bürgerinnen und Bürger islamischen Glaubens in einen Topf wirft, besorgt in Wahrheit die dreckige Arbeit der Fundamentalisten, die genau das behaupten: dass ihnen alle Muslime auf ihrem grotesken Weg ins Kalifat folgen würden.

Wir wissen, dass sie unrecht haben.

Robert Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur