Michael Nikbakhsh

Michael Nikbakhsh Vom Raten zur Ratlosigkeit

Vom Raten zur Ratlosigkeit

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Wenn wir Journalisten Auskunft über die ökonomische Großwetterlage begehren, fragen wir - natürlich - die Ökonomen. So, wie wir es immer getan haben. Nun ist es aber so, dass die Befragten teils diametral auseinandergehende Einschätzungen liefern. Die Rezession kommt; sie ist längst da; sie wird schlimm; sie wird es nicht. Die Staatsschuldenkrise ist außer Kontrolle; sie ist unter Kontrolle; die Hyperinflation bricht aus; sie tut es nicht. Die Zinsen werden massiv ansteigen - oder eben auch nicht. Das Weltwirtschaftssystem steht ein für alle Mal vor dem Kollaps; es erlebt lediglich eine der systemimmanenten Korrekturen, wie sie sich alle paar Jahrzehnte einstellen. Der Dissens vermag mehr schlecht als recht zu überspielen, dass die Wirtschaftsforscher keine Ahnung haben, wie es weitergeht. Sie raten.

Wenn wir Journalisten Auskunft über die Lage an den Kapitalmärkten begehren, fragen wir - natürlich - die Analysten. Und auch hier: Der große Crash steht noch bevor; der Crash war schon da. Die Aktienkurse sind heillos überbewertet, die Korrektur längst überfällig; Aktien sind billig wie nie, die dräuenden Probleme längst "eingepreist“. Selbstredend haben auch die Analysten keine plausible Vorstellung davon, was in den kommenden Monaten passiert. Sie raten.

Wenn wir Journalisten schließlich Auskunft über die budgetäre Verfasstheit eines Staats begehren, konsultieren wir die Ratingagenturen. Und die machen nun wirklich kein Geheimnis aus ihrem Geschäftsmodell, steckt doch die Ungewissheit bereits im Namen: Ratingagenturen raten.

Vom Raten zur Ratlosigkeit ist es nicht nur im sprachlichen Sinn ein kurzer Weg (mögliche Auswege zeigt Ruth Reitmeier ab Seite 6, die mit herausragenden Vordenkern der Ökonomie sprach). Tatsache ist: Es kommt nicht mehr darauf an, was man fragt, sondern wen.

Auch ich werde in jüngerer Zeit immer wieder eindringlich ersucht, den weiteren Verlauf der Finanz-Banken-Wirtschafts-Euro-Schulden-Vertrauenskrise einzuschätzen - daran geknüpft die bange Frage, wie man gerade jetzt Vermögen (so noch vorhanden) veranlagen sollte. Blue Chips? Edelmetalle? Immobilien? Staatsanleihen? Fonds? Bausparer? Oder doch der Kopfpolster?

Meine Antwort vermag die Unwägbarkeiten zwar nicht zu eliminieren, aber sie ist ein Anfang: Raten Sie einfach mit. Oder doch besser: Denken Sie nach.

Annahme eins: Das europäische, wenn nicht überhaupt das globale Wirtschaftssystem steht tatsächlich vor der Implosion. Die Gefahr ist nicht zu ignorieren. Am Beispiel Griechenlands: Der Anteil des griechischen Bruttoinlandsprodukts an der jährlichen EU-Wirtschaftsleistung beträgt nicht einmal drei Prozent. Doch diese haben ausgereicht, um die Union in die schwerste Krise ihrer Geschichte zu stürzen und die Zukunft der Gemeinschaftswährung infrage zu stellen. Man stelle sich vor, was ein Zusammenbruch Italiens oder Spaniens - auch diese Bedrohung ist nicht von der Hand zu weisen - auslösen würde. Ginge tatsächlich eine größere Volkswirtschaft des Kontinents "default“, kein Rettungsschirm wäre groß genug, um das Desaster abzuwenden. Ein Zahlungsausfall etwa Italiens würde eine Reihe international tätiger Großbanken, zugleich die größten Gläubiger Europas, in die Knie zwingen. Und es wäre auch niemand mehr da, um diese aufzufangen (der stete Hinweis auf die finanzielle Potenz der Chinesen ist in diesem Zusammenhang eher als gefährliche Drohung denn als Ausweg zu verstehen).

Kollabiert eine europäische Systembank, kollabieren andere, kollabieren die Geld- und Kapitalmärkte, kollabieren die Ökonomien. In diesem Fall dürfte es kaum noch eine Veranlagung geben, die keinen materiellen Totalschaden zur Folge hätte. Der Letzte dreht bekanntlich das Licht ab.

Annahme zwei: Die Staatsschuldenkrise bleibt tatsächlich beherrschbar, wenn auch a) um den Preis weiterer Schulden und vor allem

b) tief greifender, rascher und daher schmerzhafter Reformen (an denen übrigens auch Österreich nicht vorbeikommt, was die Bundesregierung nach wie vor nicht erkannt zu haben scheint). In diesem Fall wären die Unsicherheiten an den Finanzmärkten zwar nicht ausgeräumt. Aber der große Crash, der uns endgültig ins wirtschafts-und gesellschaftspolitische Mittelalter zurückwürfe, bliebe aus (an einer Rezession der Realwirtschaft mit all ihren unschönen Folgen führt mittlerweile wohl kein Weg mehr vorbei).

Unter der Annahme, dass die Welt, so heftig sie auch schlingern mag, schlussendlich doch nicht untergeht, darf ich auf jene Faustregeln verweisen, die eigentlich immer schon Gültigkeit hatten - in der kollektiven Bonanza des ausklingenden 20. Jahrhunderts nur rundheraus verdrängt wurden. Setzen Sie nie mehr Geld ein, als Sie tatsächlich haben; kaufen Sie nichts, was Sie nicht verstehen, und schon gar nicht auf Pump; vor allem aber: je höher die Rendite, umso höher das Risiko.

Raten Sie also nicht mit. Denken Sie nach.

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Michael   Nikbakhsh

Michael Nikbakhsh

war bis Dezember 2022 stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Wirtschaftsressorts.