KOLUMNE

Mut zum Nichtwissen!

Über die Verlockung, das eigene Halbwissen zu überschätzen – gerade in einer Zeit, in der man dieses Halbwissen so schnell ergoogeln kann.

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Ich staune immer wieder über Menschen, die auf Twitter (jetzt: X) Klimaforschenden erklären, was diese über den Klimawandel noch nicht verstanden haben. Aber das Phänomen kennen wir auch aus anderen Gebieten: Inmitten der Pandemie wurde Virologen und Virologinnen von Internetuser:innen ihr eigenes Fachgebiet erklärt. Oder als Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine begann, gab es plötzlich sehr viele scheinbare Militär-Expert:innen. Oft spricht man hierbei auch von einer „Krise der Expertise“ – also dass tatsächliche Fachmeinungen ignoriert werden. In meinen Augen hängt die Krise der Expertise zum Teil auch mit der Selbstüberschätzung des eigenen Wissens zusammen. Die allermeisten von uns sind eben keine Klima-, Virologie-, Russland- oder Militärfachleute. Doch gerade die Suche im Internet kann einem das trügerische Gefühl vermitteln, man hätte Ahnung von einem Thema. Das ist sogar in Studien aufgefallen. Forschende der Universität Yale beobachteten: Wenn Menschen nach Information im Internet suchten, stieg die Chance, dass sie ihr Wissen – auch generell zu anderen Themen – als höher einstuften (verglichen mit Personen, die keine Internetsuche getätigt hatten). Googeln scheint bei manchen ein Gefühl von Expertise zu erzeugen, selbst wenn sie nicht über eine solche verfügen. Dahinter steckt noch ein größeres, nicht mit dem Internet zusammenhängendes Problem: Halbwissen ist besonders verlockend. Man weiß gerade genug, um sich informiert zu fühlen, aber ist noch nicht tief genug in eine Materie eingedrungen, um Ehrfurcht vor ihrer Komplexität zu spüren. Ich glaube, wir alle sind oft besonders leidenschaftlich beim Diskutieren, wenn wir diesen bequemen Zustand des Halbwissens erreicht haben. Friedrich Nietzsche schrieb: „Das Halbwissen ist siegreicher als das Ganzwissen: es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender.“

Das Gefährliche  an Halbwissen ist, dass man das Gefühl von Informiertheit hat, aber nicht tief genug in eine Materie eingedrungen ist, um Ehrfurcht vor ihrer Komplexität zu entwickeln.

Leider ist es so, dass Halbwissen von fragwürdigen Blogs und Online-Kanälen genährt wird. Ein Beispiel aus der Klima-Debatte: Websites mit spektakulär klingenden Überschriften oder Social-Media-Kanäle, die suggerieren, die Klimakrise sei nur eine Erfindung, sprechen gerne von den Milanković-Zyklen. Suggeriert wird, der serbische Wissenschafter Milutin Milanković (gestorben 1958) hätte eine Klima-Theorie aufgestellt, die viel zutreffender wäre als der tatsächliche Konsens auf dem Fachgebiet, wonach der Mensch die Erderwärmung mit seinen Treibhausgasen verursacht. Einfach gesagt, hat sich Milanković mit den periodischen Schwankungen in der Art und Weise beschäftigt, wie die Erde um die Sonne wandert. Tatsächlich sind die sogenannten Milanković-Zyklen gut geeignet dafür, das Entstehen von Eiszeiten korrekt zu berechnen. Jedoch lässt sich mit ihrer Hilfe nicht erklären, wieso die Erde derzeit so rasant wärmer wird. Hier sind eben Treibhausgase verantwortlich. Doch in solchen Fällen passiert Folgendes: Ein tatsächlicher Fachbegriff aus einer Disziplin wird entwendet – missverstanden beziehungsweise umgedeutet und daraus dann eine Falschmeldung konstruiert. Das Problem: Allein das Herumschleudern mit Fachbegriffen (selbst wenn diese Konzepte falsch verstanden werden) klingt oft eindrucksvoll. Vielleicht kennen Sie das aus eigenen Diskussionen: Jemand hantiert selbstsicher mit einem Fachbegriff – und man fragt sich, ob die Person wirklich mehr Ahnung von dem Gebiet hat oder ob sie dazu neigt, Expertise mit dem Einwerfen vieler Schlagworte vorzuspielen.

Ein Tipp: Wenn Sie solche Schlagworte hören, können sie in einer ruhigen Minute googeln und zum Beispiel nach „Milanković-Zyklen Faktencheck“ suchen. Man merkt dann oft rasch, wie wenig an solchen Geschichten dran ist. Eine interessante Frage ist hier, wie man die eigene Selbstüberschätzung verringern kann. Dazu findet sich der schöne Begriff der „intellectual humility“, auf Deutsch: intellektuelle Bescheidenheit oder auch intellektuelle Demut. Das bedeutet, anzuerkennen, dass es Lücken im eigenen Wissen gibt und die derzeitigen Vorstellungen auch falsch sein könnten. Sich vor Augen zu führen, wie viel man über ein Thema nicht weiß, wie viele Teilaspekte dieses Themengebiets man gar nicht im Detail erklären kann, ist zum Beispiel eine gute Übung in intellektueller Bescheidenheit. Ich glaube, wir sollten tatsächlich Mut rund um unsere Wissenslücken zeigen – aber nicht in dem Sinne, dass wir ignorant auftreten und so tun, als wären wir doch überraschenderweise Expert:innen für alles Mögliche. Mutig ist in Wirklichkeit, wer anerkennt, was er oder sie alles nicht weiß, und dann den tatsächlichen Fachleuten zuhört, ohne ihnen im Anschluss die Welt zu erklären.

Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

ist Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.