Leitartikel

Nahost: Krieg und Besserwisserei

Europa und USA sind kurzfristig erleichtert, Israels Vergeltung gegen den Iran fiel begrenzt aus. Dennoch hält Netanjahu nichts von den Ratschlägen aus der EU. Er findet sie naiv und anmaßend. Zu Recht?

Drucken

Schriftgröße

Das Ringen um einen Vergeltungsschlag ist entschieden. Israel hat in der Nacht auf Freitag einen Luftschlag gegen den Iran verübt. Das tagelange Rätseln ist damit zu Ende – allerdings beginnt nun die nicht ganz triviale Aufgabe zu interpretieren, ob die Aktion zur Eskalation taugt oder sehr symbolisch angelegt war. Der erste Eindruck: zweiteres.

Entscheidend ist, dass die iranischen Behörden und Medien den Angriff umgehend als klein einschätzten – oder ihn kleinredeten. Damit scheint die Gefahr eines offenen, großen Krieges zwischen dem Iran und Israel zumindest vorerst gebannt. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu widerstand offenbar dem Druck aus seiner Regierungskoalition und verzichtete auf einen donnernden Militärschlag. Hat Netanjahu damit auf die warnenden, fast schon flehenden Stimmen aus der europäischen Politik gehört?

Europa sieht sich im Nahen Osten gleichzeitig als wohlmeinender Partner Israels und als Stimme der Vernunft. Und so waren in der abgelaufenen Woche Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock und ihr britischer Amtskollege David Cameron nach Israel gereist, um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nahezulegen, von einem militärischen Gegenschlag als Antwort auf den iranischen Raketenangriff – der seinerseits eine Reaktion auf einen Angriff Israels darstellte – abzusehen.

Im Anschluss an das Gespräch sagte Netanjahu jedoch eher unbeeindruckt: „Sie haben alle möglichen Ratschläge.“ Und: „Wir treffen unsere Entscheidungen allein.“ Anders formuliert: Ihr habt keine Ahnung!

Tipps aus Europa gelten in Israel, und besonders in der aktuellen Regierung, als Ausdruck von Naivität. Ist der Vorwurf berechtigt? Haben die Europäer einfach keine Ahnung von echten, mit islamistischen Feinden ausgetragenen Konflikten? Spricht aus den Stellungnahmen von Baerbock und Cameron Anmaßung gegenüber einer Regierung, deren Land an mehreren Fronten bedroht wird?

Nein. Hinter beiden Optionen – militärischer Gegenschlag versus kein militärischer Gegenschlag – steckt jeweils eine größere Strategie. Eine Vergeltungsaktion soll die Abschreckung gegenüber dem Iran wiederherstellen respektive vergrößern. Wann immer Teheran glaubt, israelische Ziele oder Interessen angreifen zu können, weiß das Mullah-Regime, dass es umgehend mit Verlusten rechnen muss.

Die Idee hinter einem Verzicht auf einen (großen) Militärschlag, die von den Europäern angeraten wird, ist etwas komplexer. Sie beruht darauf, dass die beste Waffe gegen den Iran die internationale Isolierung des Mullah-Regimes ist. Als der Iran Israel beschossen hat, half etwa auch Jordanien bei der Abwehr mit, ein Staat, dessen Regierung Israel derzeit wegen des Gazakrieges sehr kritisch gegenübersteht. Schlägt Israel nun nicht zurück, gewinnt es in der Region an Sympathie. Langfristig verschaffen Bündnisse und gute Beziehungen mit Nachbarn Israel mehr Sicherheit als seine schiere militärische Potenz. Die Abschreckung bliebe gemäß dieser Strategie dennoch nicht auf der Strecke, im konkreten Fall bestünde sie darin, dass Israel und seine Verbündeten – darunter Großbritannien und Frankreich – alle iranischen Geschoße unschädlich machen konnten.

Es ist ein Missverständnis, dass jene, die Israel zu jeder Art von Militärschlägen ermuntern, „proisraelisch“ seien und jene, die sich dagegen aussprechen, „antiisraelisch“.

Nein, Europa ist nicht naiv. Auch die Position des Weißen Hauses unterscheidet sich nicht wesentlich von der europäischen. Und es war auch nicht arrogant, Ministerpräsident Netanjahu in diese Richtung zu drängen. In Wahrheit nämlich atmen alle Verbündeten von Washington bis Berlin jedes Mal erleichtert auf, wenn Israel sich so verhält, dass es Sympathiepunkte macht, und winden sich voll Schmerz, wenn es – wie etwa im Gazakrieg – durch schwer zu rechtfertigende Kriegsführung zum Angeklagten wird. Wer mitleidet und sich mitfreut, beweist damit seine Freundschaft.

Es ist ein Missverständnis, dass jene, die Israel zu jeder Art von Militärschlägen ermuntern, „proisraelisch“ seien und diejenigen, die sich dagegen aussprechen, „antiisraelisch“. Proisraelisch ist vielmehr, wer daran mitwirkt, dass Israel sicherer wird. Die europäische Strategie zielt genau darauf ab. Ein Gegenschlag gegen den Iran oder auch ein Angriff auf die Stadt Rafah in Gaza machen Israel nicht sicherer, so die Überzeugung – die viel für sich hat. 

Das große Haken liegt darin, dass Israel und seine Verbündeten bezüglich ihrer Strategie zusehends uneins sind. Israel möchte militärische (und seitens der USA auch finanzielle) Unterstützung, aber keine neunmalklugen Tipps. Die Verbündeten wiederum wollen nicht einfach als Ressourcengeber herhalten, sondern auch bei der strategischen Planung mitreden. Das ist nicht anmaßend, sondern legitim. Letztendlich müssen nämlich auch die Verbündeten für Israels Vorgehen vor der Weltöffentlichkeit – oder, wie derzeit im Fall Deutschlands als Israels Waffenlieferant, auch vor dem Internationalen Gerichtshof – geradestehen.

Dass das israelische Kriegskabinett um Netanjahu sich diesmal für eine deeskalierende Option entschieden hat, ist ein gutes Zeichen. Daraus allerdings abzuleiten, Netanjahu, das Weiße Haus und die Europäer seien sich in der generellen Strategie einig, ist Wunschdenken. Als nächstes sind die bangen Blicke der Europäer und auch der Amerikaner auf Rafah gerichtet. Dort könnte gemäß Ankündigungen Netanjahus die nächste Offensive der israelischen Streitkräfte gegen den letzten großen Zufluchtsort der Palästinenser in Gaza stattfinden.

Auch in Bezug auf Rafah sind sich Israel und seine Verbündeten uneins. Erhöht ein Angriff auf die Stadt im Gazastreifen Israels Sicherheit oder gefährdet er sie?

Unterschiedliche Meinungen gibt es in jedem Bündnis. Doch selten betreffen sie eine so existenzielle Frage wie in diesem Fall. Es geht nicht um Besserwisserei, sondern um Krieg oder Frieden.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur