Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens

Österreichs Grasser-Symptom

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Hans Rauscher stellt im „Standard“ die Frage, ob Wolfgang Schüssel Karl-Heinz Grasser wirklich für einen „Kapazunder“ gehalten hat oder ob er „zynisch dessen Wörthersee-Charme genutzt hat“. Aus einer gewissen privaten Kenntnis Schüssels wage ich zu behaupten: Er hat ihn jedenfalls für tüchtig und sicher für sauber gehalten. Seinen Buwog-Deal hätte er sich in der Form, in der er abgelaufen ist, sicher nicht vorstellen können. Es ist dies wahrscheinlich die größte Schwäche Schüssels gewesen: Er war ein miserabler Menschenkenner. Selbstkritisch könnte ich hinzufügen: ein ähnlich schlechter Menschenkenner wie ich.

Nur hatte er, anders als ich, keine ­anerzogene Skepsis gegenüber Personen, die aus dem „freiheitlichen Lager“ kommen. Schüssel fügte sich damit gut in das Bild, das Rauscher von halb Österreich zeichnet: Man hat hierzulande eine besondere Schwäche, auf fesche Scharlatane herein­zufallen. Wenn man sich fragt, was Schüssel dem Land angetan hat, dann war es sicher nicht seine angebliche „soziale Kälte“ – seine Pensionsreform steht nach wie vor auf seiner Habenseite –, und ich kann, anders als Rauscher, auch nicht finden, dass er die Privatisierung ungeschickter als seine Vorgänger betrieben hätte.

Angetan hat Schüssel dem Land (darin dürfte ich mit Rauscher einig sein), dass eine so große Zahl von Freiheitlichen in Positionen gelangt sind, in denen sie noch auf Jahre hinaus Unheil anrichten werden.
Sofern sie Politiker waren, sind sie derzeit – vorerst – Gott sei Dank nicht mehr an der Macht, aber in viel größerer Zahl sind sie Beamte oder Funktionäre öffentlicher Körperschaften und werden dort alle nach dem System Grasser funktionieren: erstaunlich unfähig – außer zum Vorteil ihrer Spezis.

Zu den absurdesten Irrtümern dieses Landes zählt, Freiheitliche für besonders „sauber“ zu halten. Das Gegenteil ist wahr: Allein der Prozentsatz von Mandataren, die aktenkundig kriminell gewesen sind, ist bei der FPÖ größer als bei jeder anderen Partei. Keine Partei, so wage ich zu prophezeien, wird mehr Korruptionsskandale zu verantworten haben, falls sie je die Regierung stellen sollte. Es geht, mit siebzig bis achtzig Jahren Verspätung, um einen ganz ähnlichen Irrtum wie den, der den Aufstieg der NSDAP ermöglicht hat: Man hielt Leute, die die „Verkommenheit des herrschenden Systems“ besonders lautstark angeprangert haben, für Saubermänner.

Selbst bei vielen Österreichern, die das NS-System energisch ablehnen, hält sich bis heute die Vorstellung, dass seine Funktionäre zwar ideologisch verblendet, aber Idealisten gewesen wären. Dabei war der Holocaust über weite Strecken schlichter Raubmord: Im Reich wurde das Gut der Ermordeten arisiert, in Auschwitz stahlen die SS-Männer das Gold, das man den Toten aus dem Gebiss gebrochen hatte. Ein weiteres grundsätzliches Missverständnis ist der Glaube an die Intelligenz und damit Leistungsfähigkeit dieses Menschentyps. Letztlich waren die Nazis in ihrem Glauben, dass Deutschland den Rest der Welt militärisch besiegen könnte, auch einfach dumm.

Menschen, die heute eine Partei wählen, die zum Dritten Reich keine eindeutige Meinung hat – und die FPÖ hat dazu keine eindeutige Meinung –, mangelt es keineswegs nur an Moral, sondern es mangelt ihnen nicht zuletzt an der Intelligenz, aus der Geschichte richtige Schlüsse zu ziehen. Ein Rechtsanwalt, ein Industrieller, der sich heute für diese Partei entscheidet, hat, auch wenn er in seinem konkreten Tätigkeitsfeld partielle Intelligenz aufweisen mag, letztlich ein intellektuelles Defizit. Man kann nicht anständig und intelligent und gleich­zeitig Wähler einer Partei sein, in der sich Leute tummeln, die an Gaskammern zweifeln und außerstande sind, im Dritten Reich den Tiefpunkt menschlicher Entwicklung zu ­erkennen.

Wie es aussieht, könnte diese Mischung aus genuin dumpfen Wählern (Modernisierungsverlierern, die schon in der Schule Schwierigkeiten hatten) und erkenntnis-resistenten Wählern (Funktionären) à la Martin Graf die FPÖ in den nächsten Jahren zur stärksten Partei des Landes machen. Das wird nicht zuletzt dadurch erleichtert, dass ihr die beiden anderen Parteien selten Persönlichkeiten entgegenzusetzen haben, die man sowohl moralisch als auch intellektuell als überlegen empfindet. Man kann nicht mit einem Werner Faymann gegen sie antreten, der bei seiner An­biederung an Hans Dichand nicht nur Anstand, sondern auch Intelligenz vermissen lassen hat. Sonst hätte er wissen müssen, dass Hans Dichand mit sozialdemokratischen Inhalten letztlich nichts am Hut hat und seine Liebkinder blitzschnell und nach Tagesverfassung wechselt. (Nur der „Wehrmachtsgeneration“ fühlt er sich ewig verpflichtet.)

Ich gebe zu, dass meine ganze hier vertretene These durch Wolfgang Schüssel letztlich doch wieder infrage ­gestellt wird, denn hohe Intelligenz kann man ihm schwerlich abstreiten. Trotzdem hat er sich ein zweites Mal – ohne parteitaktischen Vorteil für die ÖVP – mit der FPÖ ins Bett gelegt.
Wenn auch auf einer völlig anderen psychologischen Grundlage, war es ein bisschen wie bei Bruno Kreisky: Die Gehirnzellen, in denen es um die Beurteilung von „Freiheitlichen“ ging, waren paralysiert.

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