Rainer Nikowitz: Reisefreiheit

Das Nationale musste in Zeiten wie diesen ja fast zwangsläufig an Bedeutung gewinnen. Aber dass es gleich so weit gehen würde ...

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Die Entwicklung hatte sich schon in den Tagen vor Ostern abgezeichnet. Zuerst hatten die Wachdienste im Ausseerland von einem beunruhigenden Aufkommen fremder Lederhosen berichtet, dann das Burgenland den Neusiedler See quasi zur Sperrzone für ausgewiesene Nichtpannonier erklärt. Bürgermeister in allen Ecken des Landes schrieben die ersten Brandbriefe gegen das allenthalben einsickernde Fremde, den Kritzendorfer Donau-Schrebergärtnern wurde überhaupt gleich das Wasser abgedreht, auf dass sie gefälligst blieben, wo sie hingehörten. Das mochte weiß Gott wo sein - aber mit Sicherheit nicht hier.

Ostern brachte das Fass dann zum Überlaufen. Nachdem Niederösterreich an gewissen neuralgischen Fluchtrouten phasenweise eine zweistellige Zahl von Wiener Kennzeichen pro Stunde registriert hatte, sah sich die Landeshauptfrau endgültig zum Handeln gezwungen. In den frühen Morgenstunden blockierte der niederösterreichische Getreidebauernbund mit seinen Mähdreschern sämtliche Ausfallsstraßen aus Wien. Die Kontrolle über die grüne Grenze dazwischen übernahm der niederösterreichische Landesjagdverband, zu Tausenden schwärmten die braven Waidmänner aus, manche ob des Ernsts der Situation sogar nüchtern. Johanna Mikl-Leitner erklärte, die Grenze werde auf unbestimmte Zeit geschlossen bleiben, aus wohl für jedermann nachvollziehbaren Gründen. Ständig kämen Wiener einfach so nach Niederösterreich. Und selbst, wenn sie sich an die Abstandsregeln halten sollten, wenn sie dabei auf jemanden aus der unkontaminierten lokalen Bevölkerung trafen: Sie atmeten aus. Manche vermutlich sogar mehrmals. Und das könne nicht angehen, Wiener seien sicherlich infektiöser als Niederösterreicher, sonst wären sie ja keine Wiener. Zwischen den Zeilen ließ Mikl-Leitner sogar durchklingen, dass sie sich eine Wiederherstellung der Reisefreiheit kaum vorstellen könne, solange es keinen Impfstoff gebe.

Davon offensichtlich inspiriert, zog Tirol sofort nach. In einer landesweit auf allen Kanälen übertragenen Ansprache stellte Landeshauptmann Platter fest, dass Tirol bekanntlich jenes Bundesland sei, das mit der "Operation Kitzloch" am schnellsten und kompromisslosesten gegen das Aufkeimen von Corona vorgegangen sei. Darum sei es auch den anderen Ländern, von denen halt manche leider in der Pendeluhr geschlafen hätten, in der Bewältigung der Krise schon Riesenschritte voraus. Diese positive Entwicklung werde man sich jetzt durch schwerlich mit einem vergleichbaren Verantwortungsgefühl ausgestattete Fremde sicher nicht kaputtmachen lassen. Da gelte es den Anfängen zu wehren, donnerte ein bei der Präsentation dieser Maßnahme den Kampfanzug der Tiroler Schützen tragender Landeshauptmann. Und also die Grenzen dichtzumachen, bevor irgendwelche dahergelaufenen Salzburger oder nicht asylberechtigte Vorarlberger Corona wieder nach Tirol einschleppten. Außerdem setzte Platter eine unabhängige Untersuchungskommission ein, bestehend aus Vertretern der Seilbahnwirtschaft, der Hotellerie und der Gastronomie, wegen der immer dichter werdenden Hinweise, dass in Wirklichkeit eine Gruppe von Wienern den Virus in das unschuldige Bergdörfchen Ischgl eingeschleppt hätte - und nicht etwa umgekehrt. Sollte sich dies als wahr herausstellen, müsse ein Abbruch der diplomatischen Beziehungen in Betracht gezogen werden, drohte Platter.

Dann fiel den Bewohnern der kleineren Orte auch noch schlagartig ein, dass man bislang das Risiko, das vom Nachbardorf ausging, gröblichst unterschätzt hatte.

Nunmehr wollte sich natürlich kein Bundesland mehr nachsagen lassen, nicht alles Menschenmögliche für den Schutz seiner Landesbürger zu tun. Kärnten schloss die Grenze zu Salzburg, Salzburg zu Oberösterreich, Oberösterreich zu Steiermark, Steiermark zu Burgenland. Irgendwann jeder zu jedem. Eine Zeit lang waren dann alle recht zufrieden, man hatte alles getan, Corona war praktisch besiegt.

Dann merkten aber die Steirer, dass die Grazer auch nicht in Graz blieben. Die Linzer nicht in Linz. Der Ton zwischen Villach und Klagenfurt wurde rauer als beim Eishockey. Tourismusverbände ließen die Fremden wissen, dass sie sich zwar um Schlag zehn Uhr nach der Krise in ausreichender Zahl zur Füllung sämtlicher Betten einzufinden hätten - jetzt aber mit Sicherheit nicht! Städten, die früher auf ihre mittelalterlichen Befestigungsmauern stolz gewesen waren, wurden diese jetzt ein ums andere Mal zum Verhängnis, weil sie nämlich nicht mehr verhinderten, dass jemand reinkam -sondern zusehends, dass jemand rauskam! Dann fiel den Bewohnern der kleineren Orte auch noch schlagartig ein, dass man bislang das Risiko, das vom Nachbardorf ausging, gröblichst unterschätzt hatte. Zum Glück war da gerade Anfang Mai - also wurden die Maibäume heuer nicht aufgestellt, sondern als Straßensperre verwendet. Das Volk hatte gesprochen, das Volk hatte seinen Willen bekommen. Endlich konnte niemand mehr irgendwo hin. Endlich waren alle für alle Zeiten in Sicherheit.

Ständig kamen Wiener aufs Land und atmeten aus. Manche sogar mehrmals!

Rainer   Nikowitz

Rainer Nikowitz

Kolumnist im Österreich-Ressort