Rainer Nikowitz

Rainer Nikowitz Wahlziel

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Der Vizekanzler gehörte ja einer Partei an, die den Satz „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“ an sich für richtig hielt. Manchmal mehr, manchmal weniger. Bei der Überwachung der Bürger mehr, bei jener von Parteifinanzen zum Beispiel eher weniger. Aber heute war Michael Spindelegger einmal wirklich froh darüber, dass zu den bürgerlichen Freiheiten auch das geheime Wahlrecht zählte. Denn genau dieses würde ihm heute dazu verhelfen, der Erfüllung all seiner Träume zumindest einen kleinen Schritt näher zu kommen.

Obwohl es nur die EU-Wahl war und er selbst gar nicht auf dem Stimmzettel stand, hatte Michael vor Aufregung ganz schlecht geschlafen.

Die letzten Umfragen hatten ein knappes Rennen zwischen SPÖ und ÖVP um den ersten Platz prophezeit. Und davon, wer am Ende die Nase vorne haben würde, hing für Spindelegger immerhin ab, wie sein weiterer Lebensweg verlaufen würde. Die innenpolitischen Kaffeesudleser stellten es ja schon seit Wochen als quasi beschlossene Sache hin, dass eine Niederlage der ÖVP das Ende seiner Obmannschaft bedeuten würde. Und dass er danach entweder nur mehr Finanzminister sein würde oder unter Umständen EU-Kommissar. Dass er statt Johannes Hahn nach Brüssel gehen könnte, war dabei nicht einmal mit dem üblichen Postenschacher-Naserümpfen begleitet worden. Offenbar fanden selbst notorische Lästerer, dass man nach drei Jahren auf einem Sessel, gegen den das Nagelbrett eines Fakirs eine Oase der Gemütlichkeit ist, einfach ein moralisches Recht auf einen gut bezahlten Job hatte.

Interessant an der Obmanndebatte, mit der sich die ÖVP gewohnt hingebungsvoll befasste, war aber vor allem die Tatsache, dass es viele in der Partei zu geben schien, die sich vom turnusmäßigen Wechsel auf dem Chefposten tatsächlich etwas erwarteten. Ein schier unüberblickbarer Haufen von Funktionären, Profiteuren, Würden- und Bedenkenträgern, die damit aber leider allesamt einem schrecklichen Irrtum aufsaßen: Dass nämlich einzig der Finanzminister von der traurigen Gestalt der Grund war, warum die ÖVP gerade so inbrünstig daran arbeitete, aus der Zeit zu fallen – und nicht etwa sie selbst.

Michael hatte dieses Mal nicht wie üblich darauf bestanden, dass seine Frau per Briefwahl abstimmte. Normalerweise tat er das, damit er auch wirklich sicher sein konnte, zumindest noch eine zweite Vorzugsstimme zu bekommen. Aber diese Wahl heute war eben in jeder Beziehung anders.

Nachdem er hastig das Frühstück hinuntergeschlungen hatte, machte sich der Vizekanzler sogleich auf den Weg ins Wahllokal. Er kam an vielen Plakaten vorbei, auf denen Othmar Karas zu sehen war. Sie bestätigten Spindelegger zumindest, dass er nicht der einzige in der Partei mit einem Charisma-Faktor nahe dem Gefrierpunkt war. Dass es ausgerechnet der von ihm mäßig geliebte Europapolitiker war, von dem Michaels Schicksal abhing, war eine nicht gänzlich unpikante Konstellation. Aber das konnte er jetzt sowieso nicht mehr ändern. Genauso wenig wie die Entscheidung, die er in den nächsten Minuten treffen würde.

Vor dem Wahllokal warteten schon einige Journalisten und Fotografen auf ihn. „Herr Vizekanzler! Was erwarten Sie sich für ein Ergebnis?“ – „Selbstverständlich einen Sieg!“, antwortete Spindelegger fröhlich. Was er sich noch dachte, sagte er allerdings nicht laut: „Für mich!“

In der Wahlzelle atmete Michael noch ein letztes Mal tief durch, sandte ein kurzes Stoßgebet zu seinem persönlichen Lieblingsheiligen Julius, dem Schutzpatron der Latrinenreiniger, und machte dann sein Kreuz. Es war vollbracht. Etwas Mutigeres hatte der Vizekanzler in seinem Leben noch nie getan. Er fühlte zum ersten Mal seit langer Zeit so etwas wie Stolz in sich aufwallen.

Als er sich zur Wahlurne stellte, um den Fotografen die Gelegenheit zu geben, ihn mit dem Stimmzettel in der Hand abzulichten – also das zweifellos originellste Bild des Tages zu schießen –, fragte ein besonders vorwitziger Reporter: „Verraten Sie uns, wen Sie gewählt haben?“

„Ha!“, machte der Vizekanzler. „Haha! Das ist eine wirklich gute Frage! Aber wenn Sie ein wenig nachdenken, bin ich recht zuversichtlich, dass Sie die richtige Antwort alleine herausfinden werden!“

Also sprach der Parteiobmann der ÖVP launig und versenkte dann sein Kuvert in der Urne. Ein Kuvert, in dem etwas drin war, das es nicht einmal zu Zeiten eines Erhard Busek gegeben hätte: ein Stimmzettel mit einem Kreuz bei der SPÖ.

Anschließend fuhr Spindelegger sofort in die Parteizentrale und übte auf dem Weg schon einmal seine Betroffenheitsmiene, damit er sie dann auch wirklich sofort abrufen konnte. Denn mit ein bisschen Glück waren schon die ersten Trends da. Und mit noch mehr Glück prophezeiten sie der ÖVP herbe Verluste. Dann würde es Michael Spindelegger tatsächlich geschafft haben. Dann war endlich, endlich das nächste arme Schwein dran.

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Rainer   Nikowitz

Rainer Nikowitz

Kolumnist im Österreich-Ressort