Robert Treichler: Die Verengung der Welt

Die Debatte über Amanda Gormans Übersetzung offenbart die Beschränktheit der Identitätspolitik.

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Jetzt ist es da. Das Gedicht, das die amerikanische Lyrikerin Amanda Gorman bei der Angelobung von US-Präsident Joe Biden vorgetragen hat, ist in deutscher Übersetzung in einem zweisprachigen Band erhältlich. Titel: „Den Hügel hinauf“ (Im Englischen: „The Hill We Climb“). Vorangegangen ist den Bemühungen, die 723 Wörter in europäische Sprachen zu übertragen, ein heftiger Streit darum, wer diese Aufgabe erledigen soll – und vor allem: wer nicht.

Beginnen wir ganz am Anfang, mit dem Gedicht. Amanda Gorman leitet ihren Vortrag mit folgenden Worten ein (zitiert nach der deutschen Übersetzung): „Mr. President und Dr. Biden, Madam Vice President und Mr. Emhoff, Bürger*innen Amerikas und der Welt.“ Sie wendet sich also an die ganze Welt, was Sinn ergibt, wenn man bei der Live-Übertragung der Inaugurationsfeier des US-Präsidenten spricht. Das bedeutet auch, dass Gorman davon ausgeht, dass die ganze Welt – jedenfalls alle, die Englisch sprechen – sie verstehen kann. Sie bedient sich des großartigsten Werkzeugs, das die Menschheit je erfunden hat – der Sprache. Sie vertraut dabei auf deren Universalität, und sie tut das zu Recht. Ihr Poem, vorgetragen vor wenigen Zuschauern auf den Stufen des Kapitols, lässt in den Worten des deutschen „Tagesspiegels“ eine „emotionale Verbindung nach draußen entstehen“. Und draußen, das ist die ganze Welt. Gorman ist ein Star, ihr Gedicht hat Zigmillionen Menschen berührt.

Sprache kann den Horizont aufmachen, und die zu diesem Zeitpunkt 22-Jährige weiß das.

Dann jedoch bemächtigen sich die Aktivisten der Identitätspolitik der Angelegenheit und behaupten genau das Gegenteil. Während Gorman von „Brückenschlägen“ spricht („all the bridges we’ve made“) beginnen die Identitätsideologen Zäune zu errichten. Nicht etwa, weil sie fordern, dass vermehrt Übersetzerinnen oder Übersetzer in den Verlagen zum Einsatz kommen sollen, die ethnischen Minderheiten angehören; das ist ein legitimes Anliegen. Doch Identitätspolitik behauptet, dass Leute kraft ihrer Identität für etwas besser oder schlechter geeignet seien, etwa zum Übersetzen von Gormans Gedicht.

Jens Kastner, Soziologe und Kunsthistoriker, formulierte es im Interview im ORF-„Kulturmontag“ so: Das erforderliche „Auskennen“, das es zum Übersetzen brauche, sei „eine komplexe Angelegenheit“, und es könne „sinnvoll sein, Leute mit der Übersetzung eines Textes zu betrauen, die vielleicht einen ähnlichen Erfahrungshintergrund haben und ihre Kompetenz daraus speisen“. Ähnlich argumentiert die afro-deutsche Übersetzerin Marion Kraft: „Kann sich in einer weißen Mehrheitsgesellschaft eine weiße Übersetzerin tatsächlich in die Erfahrungswelt einer Schwarzen Autorin einfinden oder die sprachlichen Sensibilitäten zur Verfügung haben, um nicht an einigen Punkten für einen Teil der Leserschaft verletzend zu sein?“

So verengt Identitätspolitik die Welt. Identitäre Merkmalen sollen entscheiden, wer was verstehen kann. 
Bisher wäre es niemandem in den Sinn gekommen, Übersetzer danach auszuwählen, welchen persönlichen Erfahrungshintergrund sie haben, schon gar nicht einen, der ihnen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zugeschrieben wird. Hinter dieser Forderung steckt die Annahme, wer einer diskriminierten Gruppe angehöre, könne Texte von Leuten, die ebenfalls diskriminierten Gruppen angehören, besser übersetzen.

Tatsächlich besteht die oft unterschätzte Kunst des Übersetzens darin, einen Text in all seinen Facetten zu verstehen und, so gut es geht, zu übertragen. Dazu braucht es Talent, Sprachgefühl und sehr viel Wissen – aber keine spezifische ethnische oder sonstige Symmetrie von Autor und Übersetzer.

Die erste hebräische Version von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ stammt von dem in Wien geborenen und 1938 vor den Nazis geflohenen Dan Yaron. Er erläuterte die Übertragung von Hitlers Sprache so: „Es ist ein sehr deutsches Hebräisch, aber darin spiegelt sich der Charakter der Person – darum ging es mir.“

Es ist nicht nur sinnwidrig, Identitätskriterien auf Übersetzer anzuwenden, sondern auch aussichtslos. Auf welche Merkmale kommt es denn an: Ethnie der Eltern? Lebensmittelpunkt? Geschlecht? Bildung? Alter? Beziehungsstatus? Politische Einstellung? Aussehen? Am Ende würde wohl nur Amanda Gorman selbst ihren Text in die Sprachen übersetzen können, die sie selbst beherrscht. Wer außer Amanda ist schon Amanda?

Die deutsche Übersetzung, ausgeführt von der professionellen Übersetzerin Uda Strätling, Hadija Haruna-Oelker von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und der Journalistin Kübra Gümüşay, wird eher kritisch bewertet. Es wird nicht die letzte Übersetzung von Gormans Text bleiben. Die Sprache und unser Textverständnis wandeln sich. Gustave Flauberts „L’Éducation sentimentale“ wurde im vergangenen Jahr, 150 Jahre nach seinem Erscheinen, neu übersetzt und bekam sogar einen neuen Titel: „Lehrjahre der Männlichkeit“. Verantwortlich für die viel gelobte Neuinterpretation ist die großartige österreichische Übersetzerin Elisabeth Edl.

Mit Flaubert hat sie wenig gemein.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur