Robert Treichler: Der Kanzler sollte auf Kurz hören

Sebastian Kurz verstößt in der Flüchtlingspolitik gegen seine eigenen Grundsätze.

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Bundeskanzler Sebastian Kurz behauptet, in der Migrationspolitik eine klare Linie zu verfolgen. Tut er das wirklich? Vier Beispiele.

Im Juni 2016, als Europa – immer noch geschockt von der Flüchtlingskrise 2015 – nach Lösungen sucht, wie ein solches Ereignis in Zukunft zu verhindern oder besser zu bewältigen sei, spricht sich Kurz als Außenminister dafür aus, Bootsflüchtlinge nach australischem Vorbild auf Inseln zu internieren. Er fügt damals hinzu, dass Europa dabei „wesentlich besser und menschlicher“ vorgehen solle, als dies in Australien der Fall ist.

In den darauffolgenden Jahren verfügt die griechische Regierung, dass Bootsflüchtlinge die Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos nicht vor dem Ende ihres Asylverfahrens verlassen dürfen. Sehr bald wird klar, dass es den überforderten Behörden nicht möglich ist, diese Verfahren auf den Inseln rasch abzuwickeln. Immer mehr Menschen müssen unter immer schlechteren Bedingungen ausharren. Mittlerweile leben allein auf Lesbos 20.000 Menschen in und um ein Lager, das für 3000 Personen ausgerichtet ist. Es gibt keine ausreichende medizinische Versorgung, keine Unterkünfte, keine Heizung. Zudem verliert die Bevölkerung von Lesbos – 40.000 Einwohner – angesichts der unhaltbaren Zustände die Geduld.

Kurz, inzwischen Bundeskanzler, reagiert auf all das nicht. Er schlägt in den vergangenen Monaten und Jahren nicht Alarm, weil seine Vorgabe, die Flüchtlinge „wesentlich besser und menschlicher“zu behandeln, missachtet wird. Und er bietet keine Lösung an.

Auch als Horst Seehofer, Deutschlands Bundesinnenminister und Parteifreund von Kurz, eine europäisch akkordierte Rettungsaktion zu organisieren versucht, um die Schwächsten von den Inseln weg in Sicherheit zu bringen, will Kurz nicht mitmachen. Er weiß, dass die Migranten auf Lesbos in Europa bleiben werden: da es für sie keine Asylverfahren gibt, können sie auch nicht abgeschoben werden; damit akzeptiert er, dass sie um nichts „besser und menschlicher“ behandelt werden als die Bootsflüchtlinge in Australien. Im Gegenteil. „Immer wenn Regeln nicht eingehalten werden, gefährden wir unsere Europäische Union!“ sagt Kurz im Mai 2019. Es ist eine Lehre, die nicht nur er aus den Vorkommnissen des Flüchtlingsjahres 2015 gezogen hat. Recht und Ordnung müssten auch in Ausnahmesituationen ihre Gültigkeit behalten. Vergangene Woche jedoch kündigt die griechische Regierung von Premierminister Kyriakos Mitsotakis an, wegen der von der Türkei organisierten Ansammlung von 13.000 Migranten an der griechisch-türkischen Grenze das Asylrecht für einen Monat „auszusetzen“. Das ist mit europäischem Recht unvereinbar. Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-V) regelt unzweideutig, dass eine solche Maßnahme „in einer Notlage“ und auch dann nur vom Rat der Europäischen Union auf Vorschlag der Kommission“ und „nach Anhörung des Europäischen Parlaments“ beschlossen werden kann. Kurz jedoch ignoriert dies entgegen seiner vorgeblichen Haltung und protestiert gegen den Rechtsbruch seines Parteifreundes in Athen nicht.

Als Bundeskanzler kann Kurz das, was er verlangt, durchaus auch selbst umsetzen.

„Die Türkei wird bezahlt, das zu tun, was Europa nicht tun möchte.“ Das sagte Kurz, damals Außenminister, im Dezember 2015 im österreichischen Parlament. Er verteidigte mit diesem Argument das Abkommen der EU mit der Regierung in Ankara und fügte hinzu, dass die EU zusehen müsse, ihre Grenzen in Zukunft selbst schützen – heißt: schließen – zu können. Die EU kann ihre Grenze zur Türkei in der Ägäis für Bootsflüchtlinge selbstverständlich nicht schließen, jedenfalls nicht auf eine Weise, die internationalem Recht entspricht.

Zuletzt überlegte die griechische Regierung als Beweis ihrer Entschlossenheit, noch mehr aber ihrer Hilflosigkeit, eine Barrikade im Meer zu errichten. Es ergibt also Sinn, die Türkei dafür zu bezahlen, das zu tun, was Europa nicht tun möchte: die Flüchtlinge im Land zu behalten und zu versorgen. Beim Abschluss des Türkei-Deals waren es etwa zwei Millionen Menschen, mittlerweile sind es fast doppelt so viele. Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl hätte die reiche EU in den vergangenen fünf Jahren 20 Millionen Flüchtlinge aufnehmen müssen, um Ähnliches zu leisten wie die deutlich ärmere Türkei. Deshalb ist es wohl unvermeidlich, das Abkommen nachzubessern. Das jedoch hat Kurz im September des Vorjahres abgelehnt – lange vor dem Erpressungsversuch Erdoğans in der Vorwoche.

„Ich habe immer einen Ausbau der Hilfe vor Ort und Resettlement-Programme verlangt“, erklärte Sebastian Kurz im Juni 2018 und hielt dabei „jedenfalls 10.000 bis 15.000 Menschen pro Jahr für bewältigbar“.

Als Bundeskanzler kann er das, was er verlangt, durchaus auch selbst umsetzen. Doch im Jänner dieses Jahres teilte die österreichische Bundesregierung der EU-Kommission mit, dass Österreich am Resettlement-Programm der EU nicht teilnehme. Besser und menschlicher sein; Regeln einhalten; ein Abkommen mit der Türkei unterstützen; Flüchtlinge per Resettlement nach Europa bringen: man sollte die Ideen von Sebastian Kurz ernst nehmen – insbesondere, wenn man österreichischer Bundeskanzler ist.

[email protected] Twitter: @robtreichler

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur