Leitartikel

Nach dem Fall Kellermayr

Wir sollen den Zusammenhalt stärken, sagt der Bundespräsident. Dafür gibt es nur einen Weg.

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Am Morgen nach dem Suizid der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, die offenbar durch anonyme Einschüchterungen und Morddrohungen anonymer Impfgegner zur Verzweiflung gemobbt wurde, rief Bundespräsident Alexander Van der Bellen uns alle auf Twitter dazu auf, „am Ende immer einen Weg zu finden, friedlich miteinander zu leben“, und bat: „Stärken wir den Zusammenhalt.“ 

Bloß: Wie macht man das, den Zusammenhalt stärken?

Es geht dabei um mehr als ein wohliges Gefühl der Geselligkeit. „Zusammenhalt“ umschreibt die Bereitschaft, auf der Basis miteinander vereinbarter Regeln in einer Republik zu leben, ohne einander – virtuell oder im schlimmsten Fall tatsächlich – die Köpfe einzuschlagen. Der Fall Kellermayr hat auch deshalb über die Grenzen Österreichs hinaus ein so starkes Echo ausgelöst, weil er exemplarisch eine akute Gefahr vor Augen führt: Ein Konfliktthema (die Corona-Impfung) sorgt für schwere gesellschaftliche und politische Spannungen. Es entgleitet den demokratischen Mechanismen des Ausgleichs und führt zu Gewaltbereitschaft

„Spiegel.de“-Kolumnist Sascha Lobo weist in seinem Kommentar „Mit welchen Strategien Putin die EU zerstören will“ darauf hin, dass Gegner der liberalen Demokratie wie Russlands Präsident Wladimir Putin genau solche Themen dazu benutzen, um mithilfe seines Propaganda-Apparates die Debatte zu manipulieren und die Leute aufzuhetzen. Kellermayr sei eben diesem „radikalisierten Furor“ zum Opfer gefallen.

Es gibt einen guten Grund, warum es den Feinden der liberalen Demokratie bisher nicht gelungen ist, diese auszuhebeln.

Wir müssen zwei Dinge verhindern: Erstens, dass sich der tragische Fall der Ärztin wiederholt; Zweitens, dass die öffentliche Debatte – der liberale Kern unseres Zusammenlebens – zur Waffe gegen unsere Demokratie pervertiert wird.

Jemanden wie Lisa-Maria Kellermayr vor Angriffen zu bewahren, ist Aufgabe der Sicherheitsbehörden, die damit nicht nur Leib und Leben einer Bürgerin schützen, sondern auch das Recht aller, sich gefahrlos öffentlich zu äußern. Der Innenminister soll klar sagen: „Unsere Polizei steht an der Seite aller, die wegen ihrer Meinung bedroht werden.“

Der zweite Punkt ist noch heikler. Wie kann man eine Debatte retten, die zusehends aggressiver und unversöhnlicher wird? Unsere Gegner, allen voran Putins Trollfabriken, verfolgen einen perfiden Plan: Sie wissen, dass unsere Gesellschaft politisch, kulturell und ethnisch inhomogener geworden ist, und sie versuchen, dies gegen uns zu wenden. Reale Trennlinien zwischen verschiedenen Gruppen werden durch das Verbreiten von Verschwörungstheorien zu tiefen Gräben. Migrationshysteriker, Corona-Leugner, Klimawandel-Leugner, Saboteure der westlichen Unterstützung der Ukraine … Immer neue Positionen werden befeuert, um die Gesellschaft an den Rand des kollektiven Nervenzusammenbruchs zu treiben.

Was haben wir dem entgegenzusetzen? Worauf gründet der Zusammenhalt, dessen Stärkung Bundespräsident Van der Bellen beschwört?

Es gibt wenig, worauf sich die Gesellschaft einigen kann, so ziemlich alles scheint umstritten: die Sprache, die Ernährung, die Identitäten und die traditionellen politischen Themen wie Umverteilung und Macht sowieso. Vielleicht ist es besser, die Frage andersrum zu stellen: Warum ist es den Feinden der liberalen Demokratie bisher nicht gelungen, diese auszuhebeln? Darauf gibt es eine einzige Antwort: Weil wir – jedenfalls die überwiegende Mehrheit – sie fraglos für das einzige System erachten, in dem wir leben wollen. 

Die antiliberale Bewegung behauptet, hier bei uns in einer Diktatur zu leben, während sie fröhlich geifernd und Transparente vor sich her tragend durch die Straßen spaziert, ordnungsgemäß und zu ihrer Sicherheit begleitet von der Polizei.

Besser hätte man sie nicht Lügen strafen können. Die liberale Demokratie kann dumme Behauptungen wegstecken. Phil Kerby, 1993 verstorbener Pulitzer-Preisträger und Redakteur der „Los Angeles Times“, wird das Zitat zugeschrieben, dass „Zensur der stärkste Trieb der menschlichen Natur ist – und Sex weit abgeschlagen Zweiter“. Tatsächlich kann nur die liberale Demokratie diesem Trieb widerstehen. Und das ist die beste Basis für unseren Zusammenhalt: Wir brauchen nicht derselben Meinung zu sein. Die einen können für die Impfpflicht demonstrieren, die anderen dagegen, und das gilt für jedes Thema. Darin besteht auch die Herausforderung für uns alle. Je inhomogener unsere Gesellschaft wird, umso mehr müssen wir uns darin üben, die unterschiedlichen Einstellungen, Lebensentwürfe und Dummheiten (ja, die auch!) zu tolerieren.

Doch es existiert eine rote Linie. Nicht eine zwischen pro irgendwas und contra irgendwas, sondern da, wo Gewalt ins Spiel kommt. „Am Ende“, schreibt Van der Bellen, also nach erbitterten Debatten und lautstarken Kundgebungen, müssen wir „einen Weg finden, friedlich miteinander zu leben“. Wenn wir uns in sonst nichts einig sind, nur in diesem einzigen Punkt, dann wird das unseren Zusammenhalt stärken.

Dass Lisa-Maria Kellermayr dieser friedliche Weg nicht vergönnt war, ist der Skandal.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur