Robert Treichler
Leitartikel

Robert Treichler: Tun wir genug?

Was wir alle dazu beitragen können, um Putin in die Knie zu zwingen.

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Das Entsetzen über Putins Krieg in der Ukraine wächst, und damit auch die Frage: Tun wir – unsere Regierungen, unsere Institutionen und schließlich wir selbst – wirklich alles, um es Russland so schwer wie möglich zu machen, seine Invasion fortzusetzen?

Wir befinden uns in einer neuen Form eines asymmetrischen Krieges: Ein Autokrat schickt seine Streitkräfte gegen einen schwächeren Nachbarn los, und die westliche Allianz versucht, den Aggressor mit ihrer Wirtschaftsmacht in die Knie zu zwingen.

Die Strategie, Putin unter Druck zu setzen, indem seine Günstlinge und die russische Wirtschaft insgesamt massiv behindert werden, scheint bisher erfolgreich zu sein. Putin selbst hat dies indirekt einbekannt, als er vergangene Woche dem Westen einen „wirtschaftlichen Blitzkrieg“ vorwarf.

Aber reicht das  – zusammen mit den Waffenlieferungen – aus? Die ehrliche Antwort lautet: Das kann noch niemand sagen, aber es ist jedenfalls eine sehr ernsthafte und vielversprechende Operation. Und vielleicht kommt das ein wenig überraschend, aber: Wenn der Westen im Kampf gegen Putin Erfolg haben soll, braucht es dazu uns alle. Sie, mich, die Öffentlichkeit.

Angesichts der Brutalität eines Autokraten ist unsere politische Vernunft gefordert.

Und zwar so: Die Stärke unseres demokratischen Systems besteht darin, dass Bevölkerung und Regierung mehrheitlich dieselben Ziele verfolgen, weil Letztere von Ersterer in freien und fairen Wahlen gewählt wurde. In einem autokratischen System wie Russland hingegen entscheidet der Präsident, der Freiheit und Fairness bei Wahlen längst abgeschafft hat, nach eigenem Gutdünken und bezeichnet Leute, die seine Fehlentscheidungen kritisieren, als „Verräter“, „prowestlichen Abschaum“ und Leute, die man „ausspuckt wie ein Insekt, das einem aus Versehen in den Mund geflogen ist“ (alle Zitate: Wladimir Putin).

Es liegt jetzt an uns, zu beweisen, dass unser System dem autokratischen überlegen ist. Konkret ist unsere politische Vernunft in vier Fragen gefordert:

1. Wie gehen wir mit den ukrainischen Flüchtlingen um? Putin spekulierte, dass der Flüchtlingsstrom aus der Ukraine in Europa eine ähnliche Krise auslösen würde wie 2015, als eine Million Asylwerber in die EU drängte und ein tiefer Riss durch die Bevölkerung ging. Doch bisher verhalten sich Parteien und Öffentlichkeit gegenüber den Flüchtlingen tadellos, von einer politischen Destabilisierung ist nichts zu bemerken.

2. Die Sanktionen gegen Russland bringen unangenehme Nebeneffekte – Preissteigerungen, Warenknappheit, eine Wachstumsdelle – für die westlichen Volkswirtschaften mit sich. Auch das könnte zu Verwerfungen führen und Regierungen, die Sanktionen verhängt haben, innenpolitisch in Schwierigkeiten bringen. Nur wenn die Öffentlichkeit mit großer Mehrheit die Entscheidungen mitträgt, können die Sanktionen durchgehalten werden und letztlich erfolgreich sein.

3. Um Importe von russischem Gas und Öl einschränken oder – wie die USA – gänzlich stoppen zu können, sind westliche Regierungen gezwungen, anderswo Ersatz zu finden. Dabei handelt es sich um Staaten wie Venezuela, Iran oder Saudi-Arabien, die politisch und menschenrechtlich übel beleumundet sind. Das ist kein prinzipienloses Überbordwerfen von Grundsätzen, sondern die Notwendigkeit, Prioritäten festzulegen. Und ganz oben auf der Liste steht der Versuch, Putins Angriffskrieg zu stoppen. Wir, die Öffentlichkeit, sollten Biden & Co nicht in eine politische Aporie – in ein unauflösliches Problem – zwingen.

4. Es gehört zu den Vorzügen unseres politischen Systems, dass auch abstruse Meinungen und Behauptungen zulässig sind. Das gilt auch für Pro-Putin-Kundgebungen. Es bedarf keiner außergewöhnlichen Hellsichtigkeit, um zu dem simplen Urteil zu gelangen, dass Putin ein verbrecherisches Unrecht begeht, wenn er seine Armee zur „Entnazifizierung“ ausschickt und sie Gebärkliniken, Wohnhäuser und Theater bombardieren lässt. Dennoch gilt: Wir müssen Lügen zulassen und die Wahrheit verteidigen. Das unterscheidet uns von Putins Russland.

Wir können die Brutalität eines größenwahnsinnigen Autokraten mit der politischen Vernunft unserer Demokratie besiegen. Das ist das Wertvollste, das wir für die Ukraine – und letztlich uns selbst – tun können.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur