Siobhán Geets: Wettstreit der Rechthaber

Die Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen wird von Angstmache dominiert. Ein Aufruf zur Sachlichkeit.

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Sebastian Kurz hat recht. Ein paar Hundert geflüchtete Minderjährige aus Griechenland aufzunehmen, löst Europas aktuelles Migrationsproblem tatsächlich nicht. Das behauptet allerdings auch niemand, weder die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel noch Jean Asselborn, der sozialdemokratische Außenminister Luxemburgs.

Sebastian Kurz hat ebenfalls recht, wenn er sagt, dass Europa nicht alle notleidenden Kinder der Welt aufnehmen könne. Doch auch das hat niemand behauptet. Es geht nicht um Kinder auf einem fernen Kontinent, sondern um die Frage, was mit ein paar Hundert Minderjährigen passieren soll, die bereits in der EU sind. Wohin sollen sie, wer kann ihnen helfen?

Doch hier soll es nicht um die Bewertung der (fehlenden) Moral einer (ehemals) christlich-sozialen Partei gehen. Insofern ist auch Außenminister Alexander Schallenberg recht zu geben, wenn er sagt, dass man sich in der Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen nicht von Emotionen leiten lassen soll.

Diesen Rat sollten allerdings auch die Türkisen selbst beherzigen. Wenn Kurz und Schallenberg vor einer Neuauflage der Flüchtlingskrise von 2015 warnen, ist das nichts anderes als ein Spiel mit Emotionen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich, so wie damals, Hunderttausende auf den Weg nach Europa machen. Die Zahl der Mittelmeer-Flüchtlinge ist so niedrig wie lange nicht mehr. Doch solche Fakten verschweigen Kurz &Co. geflissentlich, denn sie passen nicht zu der im Sinne politischer Rechthaberei heraufbeschworenen Krise. Dafür eignen sich die Bilder vom Herbst 2015 sehr viel besser. Es ist ein Spiel mit der Angst.

Die Panikmache der Rechten hat viele Nachahmer gefunden. Anstatt ihr, so wie Angela Merkel, eine alternative Erzählung gegenüberzustellen, hat die ÖVP sie kurzerhand übernommen. Die Folge: Viele Menschen fürchten ernsthaft, bald zu einer Minderheit im eigenen Land zu werden. An menschliche Solidarität zu appellieren und europäische Werte in Erinnerung zu rufen, hilft dabei nicht. Im Wettstreit der Emotionen ist Angst stärker als Mitleid.

Viel wurde unternommen, um Flüchtlingen zu signalisieren, dass sie es in Europa nicht besser haben werden als in ihrer Heimat. Die griechische Regierung hat Lesbos ihrer Politik der Abschreckung geopfert. Die Situation ist auch für die Einheimischen untragbar: Auf einer Insel mit 86.000 Einwohnern lebten zeitweise mehr als 20.000 Flüchtlinge! Es kommen kaum noch Touristen, viele Einheimische haben ihre Existenzgrundlage verloren.

Wir haben keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Flüchtlingspolitik. Auch ein rigoroser Schutz der Außengrenzen wird illegale Migration niemals zu hundert Prozent verhindern. Es gab sie immer schon und wird sie immer geben. Die Frage ist, wie wir damit umgehen. Nötig wären legale Wege in die EU, rasche Asylverfahren und Rückführungsabkommen mit Drittstaaten. Doch man muss diesen im Gegenzug etwas Substanzielles dafür bieten. Auch rasche Verfahren und legale Wege in die EU (die es lange gab, bevor die Mitgliedstaaten sie nach und nach abbauten) verlangen nach einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik. Kurz will keine Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen, solange es diesen Konsens nicht gibt. Er macht damit eine Kleinigkeit (schließlich geht es nur um ein paar Hundert Menschen) zu einem Stolperstein, der eine Einigung über das große Ganze verhindert.

Eine Balance zwischen europäischen Werten und dem politisch Möglichen zu finden, ist nicht einfach. Bis eine bessere Lösung gefunden ist, könnte die EU das Abkommen mit der Türkei verlängern, das zumindest in seinen Anfängen funktioniert und den Flüchtlingsstrom auf ein Minimum reduziert hat. Es wäre keine perfekte, vorläufig aber eine pragmatische Lösung. Doch auch das lehnt die österreichische Regierung ab.

In Wien heißt es, man wolle keinen "Pull-Effekt" provozieren: Eine Verteilung der Menschen auf die EU hätte zur Folge, dass sich noch mehr auf den Weg machten. Man müsse sich gut überlegen, welche Signale man aussende, sagt Schallenberg.

Auch damit hat er recht. Doch die Signale der EU zeugen vor allem von Uneinigkeit. Die Suche nach einem gemeinsamen Konsens bleibt halbherzig. Das könnte Europa politisch schaden. Auch das ist ein Signal: Die EU schafft es nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Grenzen, Kinder aus dem Elend zu befreien. Menschenrechte gelten nicht mehr, zumindest an den Außengrenzen. Die EU verliert ihre Glaubwürdigkeit. Daran ist Österreich maßgeblich beteiligt.

Unsere Pull-Faktoren sind europäische Werte und Grundrechte. Dazu gehören die Achtung der Menschenwürde, das Recht auf Bildung und körperliche Unversehrtheit. All das wurde den Menschen in Moria genommen. Wir sollten diese Rechte nicht opfern, um andere vom Kommen abzuhalten.