Türkei entfernt sich vom Rechtsstaat

Die Verurteilung von fünf türkischen Journalisten zu lebenslanger Haft zeigt, dass die türkische Justiz nicht frei entscheiden kann.

Drucken

Schriftgröße

Die Freilassung gegen Kaution von Deniz Yücel, des Türkei-Korrespondenten der Tageszeitung „Die Welt“, nach einem Jahr ohne Anklage in einem Hochsicherheitsgefängnis kann nicht als Beweis für das Funktionieren der Justiz in der Türkei gewertet werden. Yücel drohen immerhin noch 18 Jahre Haft wegen „Begünstigung von Terrorismus“.

Am selben Tag wurden sechs Angeklagte, fünf von ihnen Journalisten, wegen „Versuchs, die türkische Verfassung abzuschaffen“ und Begünstigung terroristischer Handlungen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Zwei von ihnen, die Brüder Mehmet und Ahmet Altan, sind prominente Fälle: Einer ist Schriftsteller und politischer Kolumnist, der andere Wirtschaftsprofessor an einer Universität in Istanbul. Mehmet Altan wurde vorgeworfen, er habe „unterschwellige Botschaften“ über den bevorstehenden Militärputsch vom 15. Juli 2016 im Fernsehen abgegeben. Einer ihrer Anwälte erklärte mir, worauf diese Beschuldigung beruhe: Die einen Tag vor dem Putschversuch gemachte Aussage in einem TV-Sender, dass Erdogan nicht ewig regieren werde, sei ein Beweis für Insiderwissen in die Putsch-Vorbereitungen. Zudem wurde die Aussage Altans von den Anklägern verfälscht.

Über 150 türkische Journalisten sitzen noch immer im Gefängnis.

Als weiterer Beweis für die Verstrickung von Mehmet Altan mit der Gülen-Bewegung gilt eine gefundene Ein-Dollar-Banknote in der Handtasche seiner Gattin. Der Dollar-Schein gilt wegen seiner geheimnisvollen Symbole als Zeichen der Zugehörigkeit zum Prediger Fetullah Gülen, der den Militärputsch angeordnet haben soll.

Wie sehr die türkische Justiz am Gängelband der Politik hängt, zeigt auch ein Disput zwischen verschiedenen Gerichten. Im Jänner 2018 hatte der türkische Verfassungsgerichtshof die Freilassung von Mehmet Altan angeordnet mit dem Hinweis, dass dessen verfassungsgemäßen Rechte verletzt worden seien. Ein Istanbuler Hoher Strafgerichtshof weigerte sich darauf, Altan freizulassen, weil der Verfassungsgerichtshof seine Kompetenzen überschritten habe. Dass Urteile des Verfassungsgerichtshofs von niedriger stehenden Gerichten nicht mehr anerkannt werden, zeigt, dass sich die Türkei weit von einem Rechtsstaat entfernt hat.

Über 150 türkische Journalisten sitzen noch immer im Gefängnis, die meisten warten noch immer auf die Anklageschrift. Medienanwälte berichten, dass in manchen Anklageschriften ganze Passagen aus anderen Verfahren identisch übernommen wurden. Ein „Copy-paste“-Verfahren, das offenbar Zeit sparen soll.

Es ist hoch an der Zeit, dass der Europarat in Straßburg, dem die Türkei als Mitglied angehört, aktiv wird. Bis jetzt hat der Menschenrechtsgerichtshof erst wenig Klagen von türkischen Journalisten angenommen, oft mit dem Hinweis, dass zunächst der Instanzenzug in der Türkei abgewartet werden müsse. Doch wie nun klar wird, entscheidet die türkische Justiz längst nicht mehr frei und unparteiisch.

Die EU hat vor kurzem den türkischen Präsidenten Recep Erdogan zu einem Sondergipfel im bulgarischen Varna eingeladen. EU-Diplomaten hegen die Hoffnung, dass die Türkei nun bessere Beziehungen mit der EU sucht. Das wird nicht möglich sein, solange Journalisten und Akademiker mit fadenscheinigen Anklagen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt werden.