Meinung

Ukraine und Gaza: Einmal Krieg, einmal Frieden

Kann der Westen in der Ukraine den Krieg gewinnen und im Nahen Osten Frieden schließen? Er muss.

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Territorial gesehen sind wir derzeit Zeugen eines der kleinsten Kriege der Welt. Gaza ist kleiner als das Stadtgebiet von Wien, und als Israel die Bevölkerung des Küstenstreifens aufforderte, den Norden zu verlassen, war damit ein Stück Land gemeint, das von der Grenze bei Erez bis zum Wadi Gaza nicht einmal 17 Kilometer lang ist. Zum Vergleich: Die Länge der umkämpften Front zwischen russischen und ukrainischen Truppen beträgt etwa tausend Kilometer. Geopolitisch jedoch ist der Krieg zwischen der Hamas und Israel so immens bedeutsam, dass er die russische Invasion in der Ukraine derzeit aus der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit locker verdrängt.

Das Frappierende daran: Ein großer Teil der Welt interpretiert den Gaza-Krieg völlig anders als der Westen.

Aus westlicher Sicht scheint die Ausgangslage moralisch und politisch simpel: Israel versucht, die Terrororganisation Hamas auszuschalten und hat dabei alle Legitimation auf seiner Seite. Die Hamas hat mehr als 1300 Israelis getötet und hält rund 200 als Geiseln. Israel übt nach westlicher Lesart sein Recht auf Selbstverteidigung aus. Dies gilt als so unbezweifelbar, dass nur noch die Frage offenbleibt, wie man hierzulande Gruppierungen diszipliniert, die pro-palästinensische Slogans und Symbole verbreiten.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich halte die westliche Sicht für richtig. Doch es wäre falsch zu ignorieren, dass sehr einflussreiche Kräfte einen gegenteiligen Standpunkt vertreten. Vergangene Woche trafen einander Russlands Präsident Wladimir Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping in Peking. Ein Thema ihrer dreistündigen Unterredung laut chinesischer Regierungsaussendung war „ein tiefgründiger Austausch ihrer Ansichten zur palästinensisch-israelischen Situation“.

Diese Ansichten lauten so: „Ich denke, dass viele Leute mir zustimmen, dass es sich um ein anschauliches Beispiel des Versagens der Nahost-Politik der Vereinigten Staaten handelt“, sagte Putin. Chinas Außenminister Wang Yi wiederum forderte Israel auf, die „kollektive Bestrafung“ der Bevölkerung von Gaza zu beenden.

Moskau und Peking untergraben absichtsvoll die Versuche der USA, internationale Unterstützung für Israel zu organisieren. Und es gelingt ihnen bereits in Woche zwei nach Kriegsbeginn, noch ehe die israelischen Streitkräfte eine Bodenoffensive gestartet haben. Die Liste der Staaten, die Israel kritisieren, wird länger: Südafrika, die Afrikanische Union, Indonesien, Pakistan, Venezuela, Marokko – ähnlich wie im Fall der russischen Invasion in der Ukraine nähern sich vor allem die Länder des so genannten „Globalen Südens“ der russisch-chinesischen Position an.

Das ist kein Zufall. In diesen Staaten wächst die Überzeugung, es bräuchte eine andere Weltordnung als die, für die der Westen – vor allem die USA – steht. An diesem Punkt kommt ein Argument ins Spiel, das den Westen tatsächlich schmerzt, weil es durchaus etwas für sich hat: Während die USA und Europa überall auf der Welt verlangen, dass Menschenrechte und Freiheit garantiert sind, scheinen diese Grundsätze im Nahost-Konflikt nicht prioritär. Ausgerechnet im Fall Israels, eines der engsten Verbündeten der USA, sehen die Hüter der freien Welt zu, wie dem palästinensischen Volk über Jahrzehnte grundlegende Rechte vorenthalten werden.

Das Westjordanland wird mehr und mehr durch den Bau jüdischer Siedlungen zerstückelt, und der in der israelischen Regierung dafür zuständige Minister Bezalel Smotrich propagiert unverhohlen den „Sieg durch Siedlungen“ und ein Ende der „Fantasie“, dass zwei Staaten auf dem Gebiet nebeneinander existieren könnten.

Wenn der Westen als globale Ordnungsmacht bestehen will, hat er ab sofort zwei große Aufgaben.

USA und Europa halten verbal immer noch an der Zweistaaten-Lösung fest, während die ganze Welt dabei zusieht, wie ihnen die Realität längst entglitten ist. Bisher waren die Palästinenser die Leidtragenden dieses Selbsttäuschungsmanövers. Doch langsam bildet sich ein alternativer, globaler Machtblock, der sich den Glaubwürdigkeitsverlust des Westens zunutze macht. Und plötzlich laufen die USA, Europa und auch Israel Gefahr, dass sie der ungelöste Nahost-Konflikt ihr Standing in der Welt kostet.

Natürlich blenden China, Russland und ihre lose Verbündeten auf unfaire Weise aus, dass die Palästinenser einen Teil der Schuld für die vertrackte Situation tragen – und im Falle des Gaza-Krieges die Hamas die alleinige.

Doch wenn der Westen als globale Ordnungsmacht bestehen will, hat er ab sofort zwei große Aufgaben: Er muss Russland in der Ukraine militärisch in die Schranken weisen, und er muss eine Aussöhnung zwischen Israel und den Palästinensern vermitteln. Einmal Krieg, einmal Frieden.

Natürlich kann man defätistisch darauf beharren, dass all das nicht möglich ist. Dass der Westen keinen Krieg gewinnen und keinen Frieden durchsetzen kann. Daraus allerdings würde ein trauriger Schluss folgen: Die Gegner des Westens haben Recht.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur