Gastkommentar

Deindustrialisierung ist kein Schicksal

Die Entwicklung zu mehr Dienstleistungen und weniger Industrie ist noch kein Zeichen von Wohlstandsverlust. Industriebetriebe, die weiter von russischem Gas abhängig sind und wenig energieeffizient produzieren, sollten sich aber Sorgen machen.

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Die Lage der österreichischen Industrie ist derzeit nicht rosig. Sie hat gerade fünf Quartale in Folge eine Rezession erlebt, und im kommenden Jahr dürfte ihre Wertschöpfung allenfalls stagnieren. Diese schwache Dynamik nährt die in der öffentlichen Debatte stark präsente Sorge vor einer baldigen Deindustrialisierung Österreichs. So warnt Bundeskanzler Nehammer regelmäßig vor einem schleichenden Abstieg der heimischen Wirtschaft, weil Standortnachteile in der globalisierten Welt zu einer allmählichen Abwanderung der Industrieproduktion ins Ausland führen könnten.

An sich sollte ein fallender Anteil der Industrie an der gesamten Wirtschaftsleistung keine großen Ängste auslösen. Dieser Trend lässt sich in den meisten entwickelten Volkswirtschaften schon seit vielen Jahrzehnten beobachten – ohne dass dies als Problem gesehen worden wäre. Es ist vielmehr ein Ausdruck steigenden Wohlstands, dass die Nachfrage nach Dienstleistungen stärker wächst als die Nachfrage nach materiellen Gütern. Künftig dürfte zudem die Alterung der Gesellschaft zu einer weiteren Zunahme des Dienstleistungsanteils in der Wirtschaft beitragen. Der Wandel hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft zeigt sich seit einiger Zeit zunehmend sogar innerhalb der Industrie. Im Zuge der Digitalisierung sinkt der Anteil der klassischen Produktionsberufe, während Tätigkeiten mit Dienstleistungscharakter kräftig zulegen. Auch diese Form der Deindustrialisierung bringt viel eher einen Gewinn als einen Verlust an Wohlstand mit sich.

Fortschreitende Deindustrialisierung

Entwarnung geben kann man dennoch nicht. Insbesondere dürfte die besonders starke Abhängigkeit vom russischen Gas für die österreichische Wirtschaft längerfristig nicht ohne Folgen bleiben, vor allem für Unternehmen mit wenig diversifizierter Produktionsstruktur oder geringer Energieeffizienz. Wie sich eine Verlagerung von energieintensiver Produktion in Länder mit deutlich günstigeren Energiepreisen abspielt, lässt sich sehr gut in Deutschland beobachten, wo die Deindustrialisierung vor allem in den Bereichen Chemie und Metallerzeugung derzeit deutlich fortschreitet. Ein anderes Risiko ist, dass die Industrie in Österreich – und in Europa insgesamt – Wettbewerbsnachteile erleidet, da zentrale Konkurrenten wie die Volksrepublik China und die USA zunehmend eine protektionistisch wirkende aktive Industrie- und Innovationspolitik betreiben.

Nische als Chance

Allerdings tut sich die österreichische Industrie bei der Bewältigung dieser Herausforderungen leichter, weil sie im europäischen Vergleich hoch differenziert und spezialisiert ist. So hat die energieintensive Rohstoffproduktion hier ein viel geringeres Gewicht als in Deutschland. Dafür existieren viele eher kleine Unternehmen, die sich mit hoher Agilität und hochwertigen Produkten in Nischen des globalen Marktes behaupten. Gut ausgebildete Fachkräfte bedeuten zudem gute Voraussetzungen für künftige Produktivitätsgewinne durch technologischen Fortschritt.

Trotzdem darf die Stärkung der Wachstumskräfte nicht vernachlässigt werden, um Österreich auch in Zukunft als Industriestandort attraktiv zu halten. Das erfordert in erster Linie eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln. Ein essenzieller Faktor dabei ist die Gewährleistung der Versorgungssicherheit mit Energie, auch durch den systematischen Ausbau grüner Energieträger. Ein anderer wichtiger Ansatzpunkt für ein rohstoffarmes Land ist die Stärkung der Humankapitalbasis durch hochwertige Aus- und Weiterbildung, starke Arbeitsmarktintegration und Fachkräftezuwanderung. Weitere Hebel für einen attraktiveren Standort sind eine breite öffentliche Förderung von Forschung und Entwicklung, gute Bedingungen für Investoren, effiziente Infrastruktur und unbürokratische Verwaltung.

Was es auf nationaler Ebene dagegen eher nicht braucht, ist aktive Industriepolitik, denn diese funktioniert der Erfahrung nach häufig einfach nicht gut. Wenn es darum geht, technologisch Weltspitze zu bleiben, ist in einem geopolitisch schwierigen Umfeld Europa gefragt.

Holger Bonin, 55, leitet seit Juli 2023 das Institut für Höhere Studien (IHS). Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Kassel. In seinen Forschungsarbeiten beschäftigte er sich insbesondere mit Arbeitsmarktpolitik.

Holger Bonin

Holger Bonin

ist Direktor des Instituts für Höhere Studien (IHS)