Leitartikel

Zeit, die Angst abzuschütteln

Putin testet mit Grauslichkeiten, wie tief die Schockstarre des Westens ist. Wir müssen aufhören, uns zu fürchten.

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Julija Nawalnaja ringt mit der Fassung, als sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz erfährt, dass ihr Mann Alexej Nawalny in einem Arbeitslager am Polarkreis gestorben ist. Oder besser gesagt: vermutlich kaltblütig ermordet wurde. Diese Sekunden waren wohl die schrecklichsten in Nawalnajas Leben – und gleichzeitig wurde sie in diesem Moment als neue Hoffnungsträgerin vieler verzweifelter Russen wiedergeboren. Nawalnaja wurde zu dem, was sie nie sein wollte: eine Politikerin; mehr noch, das neue Gesicht der Opposition – und damit zur Erzfeindin des Diktators Wladimir Putin, der ihren Mann auf dem Gewissen hat.

Nawalnaja nahm die Herausforderung an und erklärte umgehend, die Leitung der Anti-Korruptions-Stiftung ihres Mannes zu übernehmen, die es sich zum Ziel setzt, diesen Mord aufzuklären. „Mit der Tötung von Alexej hat Putin die Hälfte von mir, die Hälfte meines Herzens und die Hälfte meiner Seele getötet“, sagte sie. Die andere Hälfte sei voll „Wut, Zorn und Hass“, der sie nun antreiben würde, den Traum ihres Ehemannes zu verwirklichen: ein Russland „voller Würde, Gerechtigkeit und Liebe“.

Wir sollten uns ein Herz fassen und ihn wissen lassen, dass wir Demokraten, Freiheitsliebhaber und Friedenskämpfer bereit sind, uns gegen ihn zu wehren.

Diese Worte sind Nawalnajas potenzielles Todesurteil – nach Russland einzureisen, würde einem Selbstmord gleichen. Putin erstickt Widerstand stets im Keim. Das musste Nawalnaja schon einmal am eigenen Leib erfahren, als sie 2021 mit ihrem Ehemann wieder nach Russland einreiste, nachdem er sich im Ausland von einer Nowitschok-Vergiftung erholt hatte. Er wurde unter hanebüchenen Vorwänden verhaftet, ins Gefängnis geworfen, das er schließlich nicht mehr lebend verließ. Nawalny war damals nicht naiv – er wusste genau, was er tat, und wie gefährlich die Rückkehr für ihn sein würde. Aber er wusste auch: Widerstand und Revolution aus dem Exil funktionieren nicht. Es gibt dafür einige Beispiele: Man denke an Michail Chordokowski, ein einst russischer Oligarch und Oppositioneller, der heute in London lebt. Er versucht von dort russische Korruption ans Tageslicht zu bringen – nur, so ehrlich muss man sein: In Russland selbst löst das keine Stürme des Protests aus. Das schafft auch Nadya Tolokonnikowa nicht, Musikerin, politische Aktivistin und Gründungsmitglied der feministischen Band Pussy Riot. Dass die Revolution von außen nicht gelingt, ist kein russisches Phänomen: Auch Nathan Law Kwun Chun, ein chinesischer Politiker, der in Hongkong lebt, bemüht sich recht erfolglos, eine Flamme des Protests in seinem Land so zu entzünden, dass es schließlich zum heilenden Flächenbrand kommt. Auch Yassin al-Haj Saleh, ein syrischer politischer Dissident, versucht von Istanbul aus, eine syrische Revolte zu starten. Bisher ohne Erfolg. Der Grund ist immer derselbe: Diktaturen nähren die Angst und bauen auf ihr stabilisierendes Element, das ganze Völker in Schockstarre hält. Wie die Geschichte zeigt, gelingt es nur selten, genug Menschen gleichzeitig aus dieser so zu wecken, dass der Mut zur Revolution schließlich überwiegt.

Keiner weiß das besser als Wladimir Putin. Wie ängstlich wir, der Westen, sind, testet er momentan unaufhörlich. Nawalnys Tod war nichts anderes als eine weitere Probe. Man muss sich das nüchtern vor Augen führen: Sein größter politischer Widersacher kommt gerade dann zu Tode, während die Münchner Sicherheitskonferenz in vollem Gange ist – es ist das weltweit führende Forum für Debatten zu den drängendsten, internationalen Sicherheitskrisen. Stargast dieses Mal: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Und Putin sieht sich das aus der Ferne an – und schickt ein deutliches Zeichen, das heißt: Ihr könnt mich mal. Dem nicht genug, befördert er postwendend auch noch den Vizechef der Gefängnisbehörde. Es ist ein Hohn!

Und was ist daraufhin passiert? Nichts.

Auf der Konferenz wurde weiter geredet, aber die Worte klangen hohl. Niemand wies russische Diplomaten aus. Es wurde nicht verkündet, dass die von der Ukraine gewünschten Taurus-Raketen gleich geliefert und mit den besten Sprengköpfen versehen werden. Im deutschen Bundestag wurde das wenige Tage später sogar abgelehnt.

Und was lernt Putin daraus? Dass er sich auch das wieder erlauben konnte – den entsetzten, empörten Worten des Westens aber selten harte Taten folgen. Nawalnaja hat Recht: Widerstand gegen dieses Regime ist geboten, und dafür müssen wir zuallererst aufhören, uns vor Putin zu fürchten. Denn Angst ändert an seiner Aggression gar nichts. Wir sollten uns ein Herz fassen, und ihn wissen lassen, dass wir Demokraten, Freiheitsliebhaber und Friedenskämpfer bereit sind, uns gegen ihn zu wehren und zu verteidigen, wenn es notwendig ist. Denn niemand hier will leben wie die Menschen in Russland das derzeit müssen: In Angst, ständiger Sorge und Unsicherheit.

Anna  Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.