profil-Autor Davidzon mit Selenskyj in Kiew
Mensch des Jahres

Ein Abend mit Wolodymyr Selenskyj

profil-Autor Vladislav Davidzon über eine Begegnung mit Wolodymyr Selenskyj, die Verwandlung des Komikers in einen mutigen Anführer der Nation und die Frage, ob der Präsident der Ukraine auch in der Zeit nach dem Krieg als Held gelten wird.

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Am Vorabend seines Wahlsiegs bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine Ende März 2019 ging ich mit Wolodymyr Selenskyj  essen. Zu dieser Zeit wurde er von ukrainischen Journalisten heftig dafür kritisiert, dass er kaum Interviews gab. Selenskyjs Präsidentschaftskampagne hatte sich dadurch ausgezeichnet, dass er die einheimische Presse umging, um direkt mit der Bevölkerung zu sprechen. Mein Freund, der französische Philosoph Bernard-Henri Levy, und ich zählten jedoch als Ausländer nicht zu den Leuten, die er mied, und Selenskyj war beim Treffen in einem Restaurant in Kiew genauso neugierig auf uns wie wir auf ihn. 

Alle Umfragen deuteten darauf hin, dass ein Erdrutschsieg und eine Neugestaltung der ukrainischen politischen Landschaft bevorstanden. Levy wollte wissen, wie der Komiker Selenskyj im Vergleich zu Coluche abschnitt, ein französischer Komiker, der sich 1981 als Präsidentschaftskandidat versucht hatte.

Die Aufregung des jungen Künstlers und Neopolitikers war an diesem Abend geradezu greifbar. Sein triumphaler Übermut mischte sich mit nur allzu verständlichen Sorgen und Ängsten. Zwei seiner Berater saßen mit uns zusammen – beide sollten später hochrangige Kabinettsposten erhalten und auch in die Feinheiten des Amtsenthebungsverfahrens gegen Trump verwickelt werden. Beide verließen schließlich die Regierung, nachdem politische Machtkämpfe das Kabinett um Selenskyj so umgestaltet hatten, dass jene Männer bevorzugt wurden, mit denen er im Showbusiness groß geworden war.

Die hervorstechendste Eigenschaft Selenskyjs an diesem Abend war sein intensiver Blick. Wenn er mit Gesprächspartnern interagiert, hat er die Angewohnheit, sie mit bohrender Intensität anzuschauen. Ein befreundeter französischer Parlamentarier, der sowohl mit Selenskyj als auch mit Emmanuel Macron Zeit verbracht hat, wies darauf hin, dass dies eine der vielen Gemeinsamkeiten der beiden Männer ist: „Der fast nietzscheanische Wille, die Person zu verstehen, mit der man es zu tun hat.“

Im Gegensatz zu den meisten Politikern hört Selenksyj, der schauspielende Komiker, der Meister der Kommunikation aus dem russischsprachigen Südosten, lieber zu, als zu reden. An diesem Abend sprachen wir darüber, ob er ein Populist sei (er war sehr skeptisch, als ich ihn zu diesem Thema befragte) und über seine Ansichten zur ukrainischen Nation. Ich fragte ihn, was er, der erste Ukrainer jüdischer Abstammung, der die Präsidentschaft erlangen sollte, über die jüdisch-ukrainische Geschichte denke. Wir fragten ihn auch, wie er Putin einschätzt und was er dem Diktator nach seiner Machtübernahme sagen würde. Selenskyj war zu diesem Zeitpunkt immer noch davon überzeugt, dass ein Abkommen mit dem Kreml zustande kommen könnte – eine falsche Hoffnung, von der er genauso abgebracht wurde wie mehrere ukrainische Präsidenten vor ihm, die ebenfalls an einem Abkommen interessiert gewesen wären. Bevor er Präsident wurde, war Selenskyj nie sonderlich auf harte ideologische Positionen fixiert; seine politischen Instinkte waren stets praktischer Natur, er war flexibel, gemäßigt und liberal. Selenskyj dachte, er könne Putin in die Augen sehen und mit ihm aus einer Position der Stärke heraus verhandeln.

Der 44-Jährige hat sich seit seinem Amtsantritt vor dreieinhalb Jahren verändert. Seine körperliche Veränderung gegen Ende des ersten Kriegsjahres ist ebenso radikal wie die politische. Als ich ihn kennenlernte, war Selenskyj stämmig, geschmeidig und bubenhaft. Sein Gesicht war frei von den tiefen Sorgenfalten, die der Kriegsstress zwangsläufig mit sich bringt. Seit Beginn des Krieges hat er merklich zugelegt – er ist im Kriegsmodus und scheint viel Zeit in den unterirdischen Krafträumen der Bunker in der Präsidialverwaltung zu verbringen. Seine Schultern und sein Nacken sind deutlich kräftiger geworden, und seine Augen sind wegen Schlafmangels und Erschöpfung sichtlich geschwollen. Der Bart hat weiße Flecken bekommen.

Selenskyjs Entscheidung, die amerikanischen Angebote zur Flucht abzulehnen, als die russischen Fallschirmjäger Ende Februar im Norden Kiews landeten und die russische Artillerie begann, Orte im ganzen Land zu beschießen, hielt das Land lange genug zusammen, um eine Verteidigung aufzubauen. Er trotzte den Mördertrupps, die auf ihn angesetzt waren. In diesem Moment wuchs Selenskyj nicht nur persönlich über sich selbst hinaus. Er war, wenn man so will, die Manifestation der Gefühle, die von Millionen ukrainischer Männer und Frauen geteilt werden. Deshalb hatten sie ihm ihre Stimme gegeben. Selenskyjs Zurschaustellung der eigenen Widerstandsfähigkeit und des eigenen Mutes war überzeugend genug, um die Nation nach der russischen Invasion zum nationalen Widerstand aufzurufen.

Damals war sein Gesicht noch bubenhaft.

Ein ukrainisches Internet-Meme, das zu Beginn des Krieges die Runde machte, zeigt einen geschmeidigen, jungen Selenskyj in Stöckelschuhen und Frauenstrümpfen. Das Foto wurde dem bekannten Bild des muskulösen russischen Präsidenten gegenübergestellt, wie er mit nacktem Oberkörper auf seinem Pferd sitzt, auf der Brust ein orthodoxes Kreuz. Welcher dieser beiden Männer, so die Frage des Memes, würde wohl seine Truppen auf dem Schlachtfeld besuchen? Putin hat bisher nichts dergleichen getan. Doch Selenskyj hat sich gewandelt: vom Stand-up-Komiker, der auf der Bühne steppt, über den hübschen jungen Schauspieler in beliebten romantischen Komödien bis hin zum Staatsmann im Krieg.

An die routinemäßigen Vergleiche mit Churchill haben wir uns mittlerweile gewöhnt – auch wenn ich persönlich der Meinung bin, dass sie untergraben, wie viel stärker Selenskyj mit seinem Volk verbunden ist. Sein Wandel – wie auch jener des gesamten Volkes – hat bei den Menschen ein enormes Gefühl der Ehrfurcht ausgelöst, gerade weil alles so verwegen war. Das ist der Grund, warum überall in der westlichen Welt ukrainische Fahnen gehisst wurden. Selenskyj und die Ukraine haben eine Entschlossenheit an den Tag gelegt, wie sie viele Völker im Westen nach mehreren Generationen des Friedens und des Wohlstands nicht mehr aufbringen können. Seine persönliche Wandlung ist schwer zu verstehen. Es gibt nicht viele Menschen, die Ähnliches durchgemacht haben.

profil ist nicht das einzige Magazin, das Selenskyj am Ende dieses Jahres ehrt. Auch das „Time Magazine“ kürte ihn zusammen mit dem „Geist der Ukraine“ zur „Person des Jahres“ 2022. Damit setzte sich Selenskyj gegen Leute wie den chinesischen Präsidenten Xi Jinping und Twitter-Eigentümer Elon Musk durch. Die Gründe für die Entscheidung sind nicht schwer zu erkennen. Für das Porträt des Präsidenten in Kriegszeiten begleitete der „Time“-Korrespondent Selenskyj in die südukrainische Stadt Cherson, die kurz zuvor durch die ukrainische Armee befreit wurde.

Selenskyj kam unmittelbar nach der Befreiung Chersons im November in die Stadt. Die Sicherheitsbeamten waren entsetzt über seinen epischen Leichtsinn. Die Versorgung mit Strom und Wasser funktionierte nur sporadisch, die Russen hatten das Gebiet vermint und überall in der Stadt Sprengfallen hinterlassen. „Als sie flohen“, schreibt der „Time“-Korrespondent, „wurden die Russen auch verdächtigt, Agenten und Saboteure zurückzulassen, die versuchen könnten, den Präsidentenkonvoi in einen Hinterhalt zu locken, Selenskyj zu ermorden oder ihn als Geisel zu nehmen. Auf dem zentralen Platz, auf dem sich Menschenmengen versammelt hatten, um die Befreiung der Stadt zu feiern, und der in Reichweite der russischen Artillerie lag, konnte seine Sicherheit nicht gewährleistet werden.“

Ist er, nach all den Monaten im Krisenmodus, leichtsinnig geworden?

Die hervorstechendste Eigenschaft Selenskyjs an diesem Abend war sein intensiver Blick.

Nein, sein Verhalten zeugt von Mut. Ungebrochen ist auch sein Kommunikationstalent, das zeigt sich jeden Abend bei seinen Appellen an die Nation. Gekonnt vorgetragen waren auch Selenskyjs Hilferufe vor Dutzenden nationalen Parlamenten und wichtigen Konferenzen – vom Filmfestival in Cannes bis zur Buchkonferenz der „New York Times“. Man konnte heuer kaum eine große Veranstaltung besuchen, ohne den ukrainischen Präsidenten für die ukrainische Sache sprechen zu sehen.

Zum Abschluss des ersten Kriegsjahres erscheinen nun die ersten Bücher über Selenskyj, etliche europäische Verlage geben Biografien heraus. Die Buchhandlungen in Paris, London und Berlin füllen sich allmählich mit biografischen und analytischen Berichten über den Krieg und über den jungen Präsidenten. Der „Selenskyj-Effekt“ der Politikwissenschafter Olga Onuch und Henry Hale ist die erste Studie über den politischen Wandel des Landes, den Selenskyj herbeigeführt hat. Die These des Buches lautet, dass Selenskyj jenen zivilen Nationalpatriotismus verkörpert, mit dem das Land den Krieg bisher überlebt hat.

Einige von Selenskyjs politischen Gegnern beklagen, dass er es nicht wie sein Vorgänger Petro Poroschenko verstanden habe, Putin in ein falsches Gefühl der vermeintlichen Errungenschaften innerhalb der zerrissenen ukrainischen Politik einzulullen. Andere befürchten, dass die Konsolidierung der Nation in Kriegszeiten die politische Arena von Gegnern säubern könnte (aber das ist eine Sorge für die Zeit nach dem Krieg, wenn die Ukrainer gewonnen und Russland besiegt haben).

Die Konsolidierung der Nation hinter Selenskyj inmitten dieses Krieges war bemerkenswert, und die Moral der Menschen ist nach wie vor enorm hoch. Der durchschnittliche Ukrainer ist immer noch sehr stolz auf seinen Oberbefehlshaber.

Doch die Ukrainer sind in der Politik bekanntlich wankelmütig. Ist die Zeit für einen Waffenstillstand mit den Russen gekommen, wird es für niemanden leicht sein, die Bevölkerung zu einer Einstellung der Kampfhandlungen zu bringen – auch nicht für Selenskyj. Er wird fast überall für seine Tapferkeit respektiert. Doch am Ende könnte Selenskyj in die Situation kommen,  von der Bevölkerung schwere Entscheidungen und sogar Zugeständnisse verlangen müssen, um Frieden zu erreichen. Wird er auch das schaffen?

Vladislav Davidzon,

geboren 1985 in Usbekistan, ist ein US-amerikanischer Journalist und Buchautor. Seine Kindheit verbrachte er in Moskau, bevor seine Familie in den frühen 1990er-Jahren in die USA migrierte. Die vergangenen zehn Jahre pendelte Davidzon mit seiner Ehefrau zwischen Odessa und Paris. Zuletzt erschienen mit „From Odesa With Love“ politische und literarische Essays über die Ukraine.