Die Wunden von Srebrenica
Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden – aber das können wohl nur Menschen sagen, deren Wunden nicht besonders tief gehen. Im Jahr 2013 saß ich in Srebrenica im Haus von Hatidža Mehmedović, sie hatte türkischen Kaffee serviert, holte aus ihrer Kredenz einige Murmeln und rieb sie zwischen den Handflächen. Die Murmeln hatten ihren beiden Söhnen im Alter von 18 und 21 Jahren gehört, die gemeinsam mit ihrem Vater und mehr als 8000 anderen zumeist muslimischen Buben und Männern in jenen Julitagen vor genau 30 Jahren im Genozid von Srebrenica von serbischen Milizen getötet wurden. Die Glaskügelchen waren das Einzige, was Hatidža Mehmedović von ihrer Familie geblieben war.
Mit jedem Tag, der verging, rückte ihr Leben mit ihren Liebsten weiter in die Ferne. Die Zeit verging, doch sie heilte keine Wunden. Aus Mehmedović, einer einfachen Hausfrau, machten die Jahre jedoch eine Kämpferin und international bekannte Menschenrechtsaktivistin. Im Jahr 2018 ist Mehmedović verstorben, doch zuvor war sie viele Jahre lang Obfrau der Vereinigung der Mütter von Srebrenica, jener Organisation, die nach den sterblichen Überresten der Opfer suchte. Die meisten waren über mehrere Massengräber verteilt, viele konnten bis heute nicht aufgespürt werden. Die Frauen von Srebrenica wurden nicht müde anzuklagen und zu erzählen, was ihnen passiert ist.
In Bosnien und Herzegowina hat der Krieg in den Neunzigerjahren rund 100 000 Menschen das Leben gekostet, zwei Millionen Menschen wurden vertrieben. Trotz politischer Spannungen gibt es heute bemerkenswerterweise keine interethnische Gewalt mehr zwischen muslimischen Bosniaken, christlich-orthodoxen Serben und katholischen Kroaten. Umso heftiger wird bis heute erbittert um die Erzählung gerungen, was in diesem Krieg genau passiert ist – allen voran in Srebrenica: Die serbische Seite findet, dass dort zwar ein Massaker stattgefunden hat – dass es ein Genozid war, der vom internationalen Strafgerichtshof als solcher klassifiziert wurde, das wird bis heute eisern geleugnet.
Dieser Tage, 30 Jahre nach dem Genozid, herrscht in Bosnien und Herzegowina eine merkwürdige Gleichzeitigkeit: Touristen aus aller Welt kehren scharenweise zurück und drängen sich in den schmalen osmanischen Straßen zwischen Orientkitsch und Grillrestaurants bosnisch-herzegowinischer Städte. Die Zeit hat aus Krieg und Genozid eine weitere Station für Touristen gemacht. Museen und Gedenkstätten sollen den ausländischen Besucherinnen und Besuchern auf Tagesausflügen die Kriegsgräuel näherbringen. Während für jene, die all das selbst erlebt und überlebt haben, das Vergangene immer ungreifbarer wird – und es sich dennoch anfühlt, als wäre seither keine Sekunde vergangen.