Morgenpost

Pro-Palästina-Brandreden bei der Berlinale: ein Bärendienst

Einseitiger Humanismus: Nach dem Berlinale-Eklat stellt sich erneut die Frage, wie voreingenommen weite Teile des Kunstbetriebs in der Nahostfrage inzwischen agieren.

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Als die ersten Statements kamen, war bereits deutlich zu spüren, dass sich hier ein Eklat zusammenbraute. Mehrere Brandreden, die Filmschaffende im feierlichen Rahmen der Filmfestspiele-Preisvergabe in Berlin am vergangenen Samstagabend hielten, galten der „Solidarität mit Palästina“ und richteten sich explizit gegen einen gerade stattfindenden „Genozid“, für einen augenblicklichen Waffenstillstand. So sehr man letzterer Forderung grundsätzlich zustimmen möchte, um die humanitäre Katastrophe des tobenden Krieges in Nahost ehestmöglich zu beenden, so verfehlt klang die Unterstellung, Israel begehe vorsätzlichen Völkermord – als wäre der Militäreinsatz in Gaza aus heiterem Himmel entstanden.
 

„I stand in solidarity with Palestine“, rief auch Festivalgewinnerin Mati Diop am Ende des Abends noch und reckte die rechte Faust, ihren Goldenen Bären fest umschlossen, in die Luft. Zuverlässig brandete wieder Applaus auf, mehr als höflich, fast schon euphorisch. Widerreden oder Differenzierungen blieben hier ebenso aus wie bei allen ähnlichen Ansagen davor. Palästinensertücher waren schon auf dem roten Teppich vor der Preisverleihung überall zu sehen, der US-Regisseur Ben Russell trug seines dann auch auf die Bühne. 
Und der palästinensische Filmemacher Basel Adra, der für seinen aufwühlenden Dokumentarfilm „No Other Land“ prämiert wurde, erklärte, dass es ihm schwerfalle zu feiern, „während in Gaza mein Volk zu Tausenden von Israel abgeschlachtet und massakriert werden“. Die Hamas, die an diesem Grauen nicht unmaßgeblich beteiligt sind, erwähnte auch sein israelischer Regiekollege Yuval Abraham, der Israels „Apartheidspolitik“ geißelte, mit keinem Wort.

„Israel-Hass“ und „Schockspruch“

All das verdichtete sich zu einem gefundenen Fressen für die sich ausnahmsweise politisch korrekt gerierende Boulevardpresse. Die Schlagzeilen bemühten sich um Eskalation: „Israel-Hass auf offener Bühne: Was stimmt mit dieser Kulturbranche nicht?“, titelte etwa das deutsche Magazin „Stern“ – und nahm die Berlinale in die Pflicht („an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert“). Die „Bild“-Zeitung erregte sich an einem Posting auf dem Instagram-Kanal der Panorama-Sektion des Festivals, das den Slogan „Free Palestine – From the River to the Sea“ verbreitet hatte: „Berlinale schockt mit verbotenem Anti-Israel-Spruch.“ Die Postings stammten angeblich nicht vom Festival, sondern von Hackern, ließ die Berlinale umgehend verlauten, man habe sie „sofort gelöscht und eine Untersuchung angestoßen, wie es zu diesem Vorfall kommen konnte“. Seitens der Festspielleitung kündigte man an, Strafanzeige gegen Unbekannt zu erstatten. 
Natürlich war damit zu rechnen, dass ein Filmfestival mit besonders prononcierter politischer Ausrichtung und einer Vorliebe für dissidentes Kino auch starke ideologische Ansagen heraufbeschwören würde. Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek sah dies wohl voraus und erwähnte als einzige vor Beginn der Preisverleihung auch die Verbrechen der Hamas, erinnerte an das Leiden der noch immer in der Hand der Terroristen befindlichen Geiseln. Für Antisemitismus gebe es auf der Berlinale keinen Platz.
Nun muss man mit dem Begriff des Antisemitismus natürlich vorsichtig sein; allzu schnell wird er mittlerweile all jenen umgehängt, die Israels rechtsreligiöse, in Teilen auch rechtsextreme Regierung scharf kritisieren. Dies aber muss ebenso legitim bleiben wie die Empathie mit der unter Dauerbeschuss stehenden palästinensischen Zivilbevölkerung. Aber weder darf Israels Existenzrecht je zur Debatte stehen, noch darauf „vergessen“ werden, mit welchem Übermaß an Sadismus die Hamas in Israel gewütet hat. Und auch wer die „Befreiung“ Palästinas vom Jordan bis zum Mittelmeer fordert, argumentiert antisemitisch.

Kaum konstruktive Debatten mehr

Man respektiere die Äußerungen der Festspielgäste, ließ die Berlinale-Leitung anderntags wissen, deren „unabhängige individuelle Meinungen“ spiegelten jedoch keineswegs „die Haltung des Festivals“ wider. Die schöne, aber durchaus blauäugige Idee einer großen Kulturinstitution, die durch vernünftige politische Diskussionen Verständnis füreinander zu wecken imstande wäre, ist jedenfalls geplatzt. Die desolate Kriegs-Weltlage und die seit dem 7. Oktober überschäumende Antipathie gegen Israel und seine Besetzungspolitik lassen offenbar kaum konstruktive Debatten mehr zu. Mit alldem hätte die Berlinale rechnen müssen.
Denn sie hat erlebt, wie es auf der Documenta im Sommer 2022 zuging, wie die unzulässige Romantisierung des palästinensischen Freiheitskampfs gerade unter linken, sich als emanzipatorisch begreifenden Gruppen sich ausgebreitet hat, wie der latente und bisweilen auch manifeste Antisemitismus im Kulturbetrieb nach dem 7. Oktober jäh sichtbar geworden ist. 
Doch die Berlinale ist erstaunlich unvorbereitet ins offene Messer gelaufen; weder die Moderatorin des Abends noch die Festivalleitung reagierten auf die Einseitigkeit der pro-palästinensischen Kundgebungen auf ihrer Bühne, wie in Schockstarre ließ man alle Live-Interventionen und Aktivismen unkommentiert stehen. Der Begriff des „Bärendienstes“, den das Festival sich damit erwiesen hat, war jedenfalls nie mehr am Platz als in diesem Fall.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.