Die Sicherheit Israels hängt zu einem nicht geringen Teil davon ab, wie es in der Welt gesehen wird. Das Bild hat sich durch die vielen zivilen Opfer in Gaza dramatisch verschlechtert. Macht das Israel noch viel unsicherer?
Rabinovici
Die Sicherheitsdoktrin Israels ist darauf ausgelegt, Abschreckung auszuüben, indem die Armee Angriffe schnell und eindeutig beantwortet. Der Gegner soll verstehen, dass sich Aggression nicht lohnt.
Ist diese Logik auf die Hamas anwendbar?
Rabinovici
Es ist schwer, die Hamas davon zu überzeugen, dass der Tod der eigenen Bevölkerung etwas ist, das vermieden werden soll. Im Gegenteil: Er wird von der Hamas gefeiert. Der Tod macht auch Babys in den Augen der Dschihadisten zu Märtyrern. Das ist ein ideologisches Problem. Die Hamas lässt sich kaum abschrecken. Die Annahme, dass dieser Krieg im Jänner zu Ende und die Hamas entmachtet sein werde, war ein Irrtum.
War das auch Ihre Erwartung?
Rabinovici
Ich dachte, dass es möglich sei, die Tunnel der Hamas zu knacken. Sogar die Militärs sind überrascht, dass die Häuser über den Tunneln wie Kartenhäuser zusammenfallen, jedoch die Tunnel darunter standhalten.
So ist der Eindruck entstanden, die anhaltenden massiven Bombardements seien eher eine kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung als der Versuch, die Terroristen zu treffen.
Rabinovici
Man muss in Israel zwischen der militärischen Führung und der Regierung unterscheiden. Die Armee führt den Krieg nicht so, wie Ministerpräsident Benjamin Netanjahu oder Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir das vorgeben.
Die Art der Kriegsführung wird sogar von den USA kritisiert.
Rabinovici
Ich bin nicht der Einzige, der deshalb Bauchweh hat. Viele Leute in Israel haben Bauchweh, allen ist klar, dass viele Unschuldige sterben. Es ist ein Dilemma: Die Hamas feuert weiterhin Raketen auf Israel ab. Ich habe eine App am Handy, die anzeigt, wo Raketen einschlagen. Israel übt keine Rache. Die Streitkräfte weisen die palästinensische Bevölkerung an, in Zonen zu gehen, die sicher sind. Genau von da schießt die Hamas dann Raketen ab.
Die Frage bleibt, ob es gerechtfertigt ist, deshalb dort anzugreifen.
Rabinovici
Die Frage lautet in Wahrheit: Kann man einen Krieg gegen eine solche Terrororganisation führen oder muss ein Staat kapitulieren? Ich kann das militärisch nicht beurteilen, aber ich weiß, dass diese Frage nicht in dieser Schärfe – und auch nicht vor dem Internationalen Gerichtshof, wo Israel angeklagt wurde – im Fall des russischen Bombardements der tschetschenischen Hauptstadt Grosny oder im Krieg der USA in Afghanistan gestellt wurde.
Wie sehen Sie das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof?
Rabinovici
Wir müssen unterscheiden: Es gibt Vorwürfe, dass Kriegsverbrechen begangen werden; dass Israel die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung vernachlässigt; dass Minister Äußerungen tätigen, die inakzeptabel sind. Aber die Frage ist, ob das Kriegskabinett und die Armeeführung eine Absicht hegen, die operativ und effektiv ist und die auf einen Genozid hinweist. Und die gibt es absolut nicht. Alle Aussagen, die darauf abzielen, man solle die palästinensische Bevölkerung vertreiben, sind natürlich zu verurteilen.
Israel hätte die Verpflichtung, Maßnahmen zu ergreifen, um gegen Leute, die so etwas fordern, vorzugehen. Die sitzen immerhin in der Regierung.
Rabinovici
Ich müsste nachdenken, welches Land solche hetzerischen Aussagen in einer Kriegssituation vor Gericht bringt. Aber aus diesen kriegshetzerischen Aussagen eine tatsächliche Absicht der Armee zu konstruieren, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine boshafte Unterstellung. Sie folgt einer Logik, die den Juden immer das unterstellt, was man ihnen antun möchte. Israel steht einem Feind gegenüber, der keinen Zweifel daran lässt, was er will. Die Hamas will die Auslöschung Israels und jeder jüdischen Stadt im Nahen Osten. Die mit ihr verbündete libanesische Hisbollah nennt mich, weil ich ein Jude bin, einen Affen und ein Schwein.
Der Internationale Gerichtshof hat kein Ende des Krieges gefordert …
Rabinovici
… das hätte mich weniger aufgeregt als die Tatsache, dass er die Frage, ob Israel einen Genozid verübt oder nicht, für verhandelbar hält. Das gereicht zum Gaudium jedes Auschwitzleugners.
Was solche Leute aus einem Gerichtsverfahren machen, liegt nicht in der Verantwortung des Gerichts.
Rabinovici
Da haben Sie recht. Tatsache ist aber, dass es passiert und dass es eine Kränkung bedeutet.
Die meisten Palästinenser interpretieren die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober nicht als ein Ereignis, das für sich allein steht, sondern als eines in einer langen Reihe von Gewalttaten, die seit Jahrzehnten begangen werden – meist an Palästinensern. Können Sie das nachvollziehen?
Rabinovici
Was am 7. Oktober passiert ist, war keine plötzliche Aufwallung; auch kein einzelnes Kriegsverbrechen; auch kein Terrorattentat, denn es wurden auch Raketen abgefeuert und Geiseln genommen; sexualisierte Gewalt wurde nicht unkontrolliert von einzelnen, wildgewordenen Männern begangen, sondern durchorganisiert, im Sinne einer Ideologie. Es wurden mehr Massaker auf einmal begangen, mit der gleichzeitigen Erklärung der Täter, dass sie dies jederzeit wiederholen, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Wenn nicht verstanden wird, dass das etwas einzigartig Schreckliches ist, dann sind wir an der Wurzel des Problems.
Thomas Friedman, Nahost-Experte und Kommentator der „New York Times“, sagt, der Staat Israel sei existenziell gefährdet, wenn er versuche, die palästinensische Bevölkerung von Gaza und des Westjordanlandes langfristig zu kontrollieren.
Rabinovici
Israel kann nicht 15 Jahre lang Raketenbeschuss aushalten, ohne sich zu wehren. Aber wenn man statt einer politischen Vision, die ein Ende der Besatzung und des Konflikts anstrebt, nur auf das Militär setzt, dann kann das nicht gut gehen. Es gibt zwei Nationen in diesem Land mit zwei unterschiedlichen Traumata und Opfergeschichten, die älter sind als der Konflikt selbst. Das jüdische Volk hat ein Trauma der Vernichtung, das immer wieder verletzt wird. Das palästinensische hat ein Trauma der Landnahme. Und hier liegt auch die Lösung. Es muss auf beiden Seiten klar sein, dass es einen territorialen Kompromiss geben muss. Ich glaube auch, dass Israel andernfalls existenziell bedroht ist. Ein Staat ist mehr als ein Sicherheitskonzept. Was ist, wenn die Hamas eines Tages über bessere, also schrecklichere Waffen verfügt?
Sehen Sie irgendwo ein Licht?
Rabinovici
Meine Gedanken sind bei den Geiseln. Sie müssen freikommen. In dieser Notsituation wird klar, dass es so nicht weitergehen kann – mit der Besatzung, mit der Siedlungspolitik, mit der Unterstützung der Hamas. Vielleicht stürzt die israelische Regierung noch während dieses Krieges, und vielleicht erkennen die arabischen Staaten, dass man gemeinsam an einer Lösung arbeiten muss. Ich bin in diesem Moment kein Optimist, aber ich bin nicht bereit, nur fatalistisch zu sein, denn das würde bedeuten, dass ich mich der Kriegswut und der Gewalthetze hingebe. Ich möchte weiter an das einzig Sinnvolle glauben – an eine Lösung für beide Nationen.