Morgenpost

Hand aufs Herz, schauen Sie noch ORF?

Die FPÖ will den öffentlichen Rundfunk zertrümmern. Nach dem Motto: Schauen eh‘ alle nur noch Netflix. Vor allem die Jungen. Ist das so?

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Guten Morgen! 

Heute schon auf ORF 1 „Wickie und die starken Männer“ um 6.05 Uhr oder „Servus Kasperl“ um 7.05 Uhr mit den Kindern geschaut? „Guten Morgen Österreich“ auf ORF2? Haben Sie ihre „Fit mit Philipp“-Kniebeugen um 9.10 Uhr für die Lektüre dieser Morgenpost unterbrochen? Nein? Dann, Hand aufs Herz: Wie oft schauen Sie in Zeiten von Social Media, Netflix, Youtube, Insta noch beim guten, alten ORF rein?

Als der ORF noch den Sonntag prägte

Ich persönlich dramatisch seltener als früher. In der Kindheit strukturierte der ORF unseren Sonntag. Elterliche Pressestunde, Hohes Haus, dazwischen Weiten-Raten bei der Skisprung-Übertragung und – wenn der Fernseher nach dem Essen weiterlief - „Heimat, Fremde Heimat“. Unter der Woche drehten sich ZIB 1 und ZIB 2 quasi automatisch auf. Schnee von gestern. News poppen am Smartphone in der Hosentasche auf, am Abend warten ständig neue Netflix-Serien. Für den ORF ist es eng geworden, dazwischen noch einen Slot zu bekommen. 28 Euro pro Monat (in Wien) dafür zu zahlen, war nicht immer ganz emotionsfrei. Durch die neue Haushaltsabgabe sind es nun 15,30 Euro. Und die gehen selbst in Wochen weitgehender ORF-Absenz zumindest als Demokratiebeitrag durch.

Faktencheck: „Die Jungen schauen keinen ORF mehr“

Denn: Ist vielfältiger Journalismus für die Massen über einen Massensender, der nicht rein vom privaten Kapital und seinen Eignern abhängt, nicht ein Wert an sich? In der „Kronen Zeitung“ versuchte der Wiener FPÖ-Chef, Dominik Nepp, genau dieses Argument zu zerlegen. Der ORF sei vor allem für junge Menschen kein Massensender mehr. Deswegen könne er keinen demokratischen Mehrwert mehr für sie haben. „Die Jungen schauen keinen ORF mehr.“ Deswegen will er die ORF-Haushaltsabgabe abschaffen und durch ein freiwilliges Abo ersetzen, wie bei Netflix - für alle, die noch ORF schauen wollen.

Tatsächlich streamen 14- bis 30-Jährige laut der jährlichen Bewegtbildstudie bereits deutlich mehr (Youtube) als klassisch fernzusehen (ORF). Auf Online-Videos entfallen durchschnittlich 50 Prozent der täglichen Nutzung, auf analoges TV nur noch 30 Prozent, während TV-Sender wie der ORF bei den über 50-Jährigen mit 80 Prozent noch klar dominieren. Die Tendenz ist eindeutig. Was Nepp nicht erwähnt: Der ORF wird nicht nur geschaut, sondern auch gehört, geklickt, gestreamt. So kommen auch die Jungen wieder verstärkt ins Spiel.

Fast 500.000 TikTok-Fans

Anfrage des Morgenpostlers beim ORF: 71 Prozent der 14- bis 29-Jährigen seien zumindest einmal täglich mit einem Angebot des ORF in Berührung gekommen - im Radio, Fernsehen oder Internet. ORF-TV erreicht laut Pressestelle noch 40 Prozent der Jungen. Wobei – Stichwort demokratischer Mehrwert – die „Zeit im Bild 1“ mit 88.000 jungen Seher:innen erst auf Platz 5 der Quotenhits 2023 landete. Auf Platz 1 bis 4 lagen das Song-Contest-Finale (200.000 junge Seher:innen), das Länderspiel gegen Deutschland, der Herren-Slalom in Schladming und das Neujahrskonzert (sic!). Im Radio soll der Marktanteil bei 45 Prozent oder 800.000 täglichen Hörer:innen in diesem Segment liegen.

Dass der ORF auch richtig jung sein kann, zeigt er auf TikTok. Das Teenie-Medium nutzen in Österreich zwei Millionen Menschen. Dem Auftritt zweier Jungjournalisten von der „Zeit im Bild“ folgen 500.000 Menschen. Auf Instagram erhalten 08/15-Meldungen aus der „Zeit im Bild“ zwischen 5000 und 30.000 Klicks. Die „blaue Seite“ orf.at wurde zwar (eher homöopathisch) redimensioniert, um privaten Medien mehr Luft zu lassen, prägt aber nach wie vor den Online-Markt auch bei Jungen.

Jetzt kommt Westenthaler

Damit hat der ORF die apodiktische Aussage von Nepp vorerst widerlegt. Interessant wäre es, ob seine Aussage zumindest für junge FPÖ-Wähler gilt. Diese Analyse kann auch Peter Westenthaler übernehmen, der ehemalige Klubobmann der Partei. Die FPÖ hat ihn in den ORF-Stiftungsrat entsandt. Ob sich Westenthaler bei seiner Mission, den ORF auf einen Bezahlsender wie Netflix umzubauen und damit zu zerschlagen, groß mit Fakten aufhält, ist allerdings fraglich.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.