Journalismus trotz Putin
Es war ein kurzer Prozess, der gestern um die Mittagszeit vor einem Moskauer Gericht das erwartete Ergebnis brachte: Evan Gershkovich, ein 31 Jahre alter Journalist der Tageszeitung „Wall Street Journal“, muss weiter in Untersuchungshaft bleiben. Dem US-Staatsbürger wird vom russischen Geheimdienst FSB „Spionage“ vorgeworfen, er selbst und seine Redaktion bestreiten die bisher durch nichts belegten Vorwürfe, deretwegen Gershkovich seit März hinter Gittern sitzt.
Bei der Verhandlung über Gershkovichs Einspruch gegen die U-Haft war auch der ORF-Korrespondent Paul Krisai anwesend, der über den Fall berichtet. Krisai, 28, und seine Kollegin Miriam Beller kennen Sie bestimmt aus den ORF-Nachrichtensendungen. Die beiden haben den schwierigen Job, aus Moskau über Russland, Wladimir Putins Regime und dessen Umtriebe zu berichten, und das vor dem Hintergrund von Paragrafen, die für einen autokratischen Staat typisch sind: Die „Diskreditierung der Armee“, „Verbreitung von Fake News“ oder die Benennung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, als das, was er ist – nämlich Krieg – stehen unter Strafe.
Krisai kennt Gershkovich, der gestern im üblichen Glaskäfig vor Gericht saß, nicht persönlich, aber sie haben einen gemeinsamen Bekanntenkreis, das bringt der Korrespondentenjob mit sich. Den Kollegen als Häftling zu sehen, dem wegen ganz offensichtlich nichts anderem als journalistischer Recherchen bis zu 20 Jahre Haft drohen, „ging mir schon unter die Haut“, sagt Krisai am Telefon zu profil.
Miriam Beller, 34, versichert, sie und Krisai hätten einen Weg gefunden, mit den Einschränkungen durch das Regime umzugehen, „sodass wir auf der sicheren Seite sind, ohne unsere journalistischen Prinzipien zu verraten“.
Beller und Krisai wurden – wie die ganze Welt – am 24. Februar 2022 von dem russischen Angriff auf die Ukraine überrascht. Krisai war zu diesem Zeitpunkt in Moskau, Beller auf Reportage in Rostow am Don, der Stadt, die im Juni dieses Jahres Schauplatz der Meuterei der Gruppe Wagner wurde.
Darüber, wie sie unter den widrigen Umständen und den Unwägbarkeiten angesichts eines unberechenbaren Regimes arbeiten und leben, haben Beller und Krisai ein Buch geschrieben: „Russland von innen – Leben in Zeiten des Krieges“ (Zsolnay Verlag) erscheint am kommenden Montag (25. September). Die Autorin und der Autor stellen es am 4. Oktober um 19 Uhr in der Hauptbücherei am Gürtel in Wien vor.
„Russland von innen“ ist ein nachdenkliches, angenehm uneitles Buch. Am Schluss schreiben Beller und Krisai, deren Job in Moskau demnächst endet: „In Russland haben wir am eigenen Leib gespürt, was es bedeutet, wenn Freiheit zum Fremdwort und Zensur zur Norm wird. Aber: Wir können diese Realität jederzeit verlassen und in ein sicheres Land ausreisen. Anders als Millionen Russinnen und Russen.“
Einen schönen Tag!
Robert Treichler