#profil50

30 Jahre Seiten-Ansicht: "Ich ersuche Herrn Nikbakhsh um Recherche!"

Zwischen Pflichtübung und Ritual, altem Knistern und offenen Fragen. Leser Mario Edler über 30 Jahre Beziehungsarbeit mit profil.

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profil-Moment, der erste. Es sprach der Herr Professor: “Ein Akademiker liest profil!". Als Maturant Ende der 1980er wollte ich, no na, rasch und komfortabel zum Akademiker mutieren, also gleich die Abkürzung: Trafik statt UB, profil statt Skriptum.

Dann die Enttäuschung. profil war ... fad. Endlose Politik-Geschichten, Wien-lastig, Wirtschaft, Kultur. Was daran bitte soll einen 18-jährigen Obersteirer mit "Heavy Metal"-Gemüt inspirieren – oder gar interessieren? Der zweite Blick offenbarte langsam den Mehrwert zur gewohnten Lektüre des heimischen Kleinformates (nein nicht dieses, das genuin steirische ist gemeint, aber trotzdem).

Kommentare statt Kolumnen, Reportagen statt Berichte, Interviews statt Wortspenden. So also geht echter Journalismus! Und natürlich: Tramontana und Haderer. Sie waren die abschließende Belohnung für das Durchkämpfen langer Storys über die Verstaatlichte und gefühlter 51 Haider-Artikel pro Jahr, sie hielten das profil-Feuer am Knistern.

Drei Jahrzehnte sind ins Land gezogen, aus der Pflichtübung wurde ein wöchentliches Ritual; aus dem Gang zur Trafik längst das Abo (by the way: kann man die Autobahn-Vignette eigentlich anders als mit dem profil-Jahresabo beziehen?). profil wurde bunter (in jeder Hinsicht) und mein persönlicher Anker im immer reißender, breiter und unverdaulicher werdenden Strom des News/Tweets/Fake-Wahnsinns.

Es birgt herrliche Anachronismen (Es verwendet noch immer den Begriff "Leserbriefe" obwohl ein Gutteil der Zusendungen per Mail kommen), es bestätigt mich in seinen Kommentaren (meist) oder widerspricht (auch das). Es tritt manchmal besserwisserisch und unpassend glamourös auf, erstaunt durch weltanschauliche Spagate ohne seine Wertebasis zu verschieben, pflegt seinen Ursprung als Aufdecker und Politik-Erklärer – und geht thematisch mittlerweile jeden noch so speziellen und damit Horizonte öffnenden Weg.

Es belohnt mich der "kurze" Nikowitz für den Leitartikel, es belohnt mich der "lange" Nikowitz für die tagelange Reise durch Weiten des gedruckten Heftes (die Neigung zum Online-Part ist noch ein sehr zartes Pflänzchen).

Aber zum Glück bleiben auch nach 30 Jahren Beziehung etliche Fragen offen: Wieso lese ich als traubenferner Bierfreund jede Woche Adi Schmids Weinkolumne und frage mich jedes mal erstaunt, ob ein hölzener Wein mit Zwetschgen (!) echt Eleganz und Charme ausstrahlen kann? Wie würde mein Verständnis von Fragen der echten Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern – und der Menschheit als Ganzes – wohl ohne die Augenöffnungen Elfriede Hammerls aussehen?

Und die wichtigste: Wann endlich erreicht profil 50% + 1 Leser in Österreich? Es wäre ein gutes, besseres Land.

Post Laudatio, profil-Moment, der jüngste: Im August 2020 kam das Heft erstmals am Montag, in aller Früh, zu mir in die tiefste steirische Provinz und nicht, sagen wir, am Dienstag (wie meist). Das Gerücht, profil erscheint am Samstag, könnte also mehr als eine Verschwörungstheorie sein.

Ich ersuche Herrn Nikbakhsh um Recherche!

 

Mario Edler, 48, Allerheiligen bei Wildon