Abschiebungen, Maskenpflicht, Demos: Mit Kinderrechten vereinbar?

Kinderrechte würden weniger beachtet als die Interessen der Seilbahnen, kritisiert die Koordinatorin des Netzwerks Kinderrechte.

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Von: Naz Kücüktekin

Elisabeth Schaffelhofer-Garcia Marquez ist Juristin und Expertin Kinderrechts-Expertin. Seit 2009 koordiniert sie das Netzwerk Kinderrechte Österreich, den Dachverband von 44 Organisationen zur Förderung der Umsetzung der UNO-Kinderrechtskonvention in Österreich.

profil: Was sind überhaupt Kinderrechte? 

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Wenn ich es Kindern oder Jugendlichen erkläre, sage ich immer: Das bedeutet, dass euch niemand wehtun darf. Ihr habt das Recht mitzureden und mitzubestimmen. Ihr dürft eure Meinung sagen, und wir Erwachsene müssen das berücksichtigen. Ganz einfach gesagt: Wir Erwachsene müssen dafür sorgen, dass es euch gut geht. Juristisch erklärt sind Kinderrechte Menschenrechte, festgeschrieben in der UN-Kinderrechtskonvention. Sie sind speziell für die Gruppe der null bis 18-Jährigen. Es geht aber auch um ältere Jugendliche – das ist wichtig.  

profil: Und seit wann gibt es die UN-Kinderrechtskonvention? 

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Sie wurde 1989 von den Vereinten Nationen beschlossen und könnte als der erfolgreichste Menschenrechtsvertrag bezeichnet werden. Denn alle Staaten der Welt, außer den USA, haben die Kinderrechtskonvention ratifiziert. In Österreich ist sie 1992 in Kraft getreten, aber nicht im Verfassungsrang. Am 16. Februar 2011 schließlich trat das Bundesverfassungsgesetz über die Rechte der Kinder in Kraft. 

profil: Warum hat das Kindeswohl nicht immer automatisch Vorrang? 

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Das müssten Sie die Richter und Richterinnen fragen. Im Artikel 1 des Bundesverfassungsgesetztes für Kinderrechte steht klar drinnen, dass das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. Es gibt aber einen Gesetzesvorbehalt darin, den wir 2011 auch massiv kritisiert hatten. Der sagt, dass eine Beschränkung der Kinderrechte zulässig ist, und zwar für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung oder das wirtschaftliche Wohl des Landes. Bis zu dieser zweiten Interessensabwägung kommt es in der Praxis oft gar nicht. Nehmen wir zum Beispiel die jüngste Abschiebung der 12-jährigen Tina T.: Da wurde im Verfahren davor schon nicht der Vorrang des Kindeswohls geprüft. 

profil: Kann man Kinder trotz Vorrang des Kindeswohls abschieben? 

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Ja, nicht jede Abschiebung eines Kindes ist per se kinderrechtswidrig. Wenn es zum Beispiel um ein Kleinkind geht, das nur kurze Zeit in Österreich war, und die Kindeswohl-Prüfung findet statt, dann kann man auch abschieben. Das Kindeswohl muss aber jedes Mal individuell geprüft werden. Das schaut für jedes Kind und Jugendlichen im Ergebnis anders aus. Wie alt ist das Kind, wie lange lebt es schon in Österreich, wo sieht es selbst seine Heimat, mit welcher Schul- bzw. Lehrausbildung – all das muss einbezogen werden. 

profil: Hat auch Tinas Mutter, die mehrfach aussichtslose Asylanträge stellte, die Rechte ihrer Kinder verletzt?

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Dass die Mutter es solange probiert hat, war sicher nicht sehr gescheit. Aber wenn eine Mutter für ihr Kind, das hier erfolgreich die Schule besucht und hier verwurzelt ist, alles versucht, um in Österreich bleiben zu können, hat sie sicher das Beste für ihr Kind im Kopf gehabt. Es ist nachvollziehbar, dass Menschen, die aus Ländern mit schlechteren Verhältnissen stammen, versuchen, für sich und ihre Kinder etwas Besseres zu schaffen. 

profil: Worauf ist bei Abschiebungen von Kindern besonders zu achten? 

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Seit dem Fall von Arigona Zogaj im Jahr 2007 hat sich nicht viel verändert, außer dass es seit 2013 das sogenannte Familien-Schubhaftzentrum in der Zinnergasse gibt. Immerhin. Es war wichtig, dass wir Kinder nicht mehr in normale Abschiebezentren oder Polizei-Gefängnisse stecken wie beim Fall der Komani-Zwillinge im Jahr 2010.  Im Fall von Tina war das große Aufgebot an Polizei, Wega und Hundestaffeln aber sicher nicht kinderrechtskonform. Für Kinder ist sowas traumatisierend. In solchen Fällen braucht es speziell geschulte Beamte, die ein Gespür für Kinder und Jugendliche haben. Alle Kinder haben das Recht, in jeder Situation respektvoll und mit Würde behandelt zu werden. 

profil: Distance-Learning, Maskenpflicht, Testungen: Wird hier auf die Rechte der Kinder überhaupt geachtet? 

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Ganz sicher nicht. Wenn man sich allein anschaut, wie im März 2020 die Schulschließungen übers Wochenende bekannt gegeben wurden. Auch, dass dann in Folge die Schulen nach den Baumärkten geöffnet wurden. Die Kindergärten wurden ebenfalls stiefmütterlich behandelt. Die zwei Tage Präsenzunterricht, die derzeit stattfinden, sind zwar gut, aber nicht ausreichend für Alltag und Tagesstruktur. Die Schulöffnungen kamen erst, als von Psychologen oder Experten ein Hilferuf kam. Die Kinderpsychiatrie ist überlastet, Essstörungen nehmen wieder zu. Ein echtes Bewusstsein für Kinderrechte gibt es derzeit bei keinem Regierungsmitglied. Beim Thema Schulen und Kinder wurde alles in der letzten Minute überlegt. Das Thema ist politisch gesehen allen wurscht. Die Expertise zu Kinderrechten ist in Österreich weniger wert als die Expertise zu Unternehmensrecht, Arbeitsrecht oder Seilbahnen. 

profil: Im Vorfeld der Corona-Demos werden Eltern teilweise gezielt aufgefordert, ihre Kinder mitzunehmen, damit die Polizei weniger streng vorgeht. Was sagen Sie dazu? 

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Das ist kinderrechtlich extrem problematisch. Dazu fallen mir zwei Forderungen ein: Zu einem mehr Kinderrechtsbildung, politische Bildung in den Schulen. Kinder müssten auf ihrem Bildungsweg von ihren Rechten erfahren. Starke Kinder lassen sicher weniger instrumentalisieren. Und zweitens braucht es auch mehr Bewusstseinsbildung bei den Eltern. Das öffentlich zu kommunizieren, das wäre die Aufgabe von Familienministerin Susanne Raab. 

profil: Das umstrittene Kopftuchverbot wurde kürzlich vom Verfassungsgerichtshof gekippt. Wie stehen Sie dazu? 

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Man muss hier eine Güterabwägung vornehmen. Ziel des Kopftuchverbots war, Mädchen vor einer Ungleichbehandlung zu schützen. Die Frage ist, ob das Verbot des Kopftuch-Tragens dafür das gelindeste und effektivste Mittel ist. Es besteht die Gefahr, dass die Mädchen bei einem Kopftuchverbot dann aus dem Regelschulwesen in radikalislamische Schulen verschwinden könnten. Und somit habe ich die Mädchen dann zwar auf den ersten Blick vor Diskriminierung in der Schule geschützt, aber in den Regelschulen sind sie dann nicht mehr, und jegliche Kontrolle und Schutz ist dahin. Deshalb hat der UN-Kinderrechtsausschuss in seinen Empfehlungen an Österreich von Februar 2020 auch darauf hingewiesen, dass eine Aufhebung des Kopftuchverbots erwogen werden sollte.  

profil: Was hat die Regierung Türkis-Grün für die Kinderrechte bisher getan? 

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Nicht viel. Es ist im Regierungsprogramm festgehalten, dass das Bundesverfassungsgesetz für Kinderrechte evaluiert werden soll. Wir haben von keiner staatlichen Stelle Information darüber, dass da etwas getan wurde.

profil: Es klingt so, als wären Kinderrechte trotz Verfassungsrangs zahnlos. 

Schaffelhofer-Garcia Marquez: Das kann man schon so sagen. 2011 warnten Verfassungsexperten davor, dass es so sein werde. Das hat sich bewahrheitet. Die Kinderrechte sind vielen Bereichen des Staates unbekannt. Sie werden nicht in dem Sinne wahrgenommen, wie sie sollten. Mir ist auch nicht bekannt, ob es in den letzten zehn Jahren Schulungen dazu gab.