Armutszeugnisse

Armutszeugnisse: Betteln steht in Österreich unter dem Generalverdacht der Geschäftemacherei

Armut. Betteln steht in Österreich unter dem Generalverdacht der mafiosen Geschäftemacherei

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Am 4. Juni stoppte die Polizei in Linz einen silbergrauen Kleinbus und ließ alle Menschen, die darin saßen, aussteigen. Bald waren zehn Beamte vor Ort. Sie legten Klammern an die Autoreifen, verhafteten den Fahrer und ließen aufgebrachte Männer, weinende Frauen und ein plärrendes Kleinkind in der prallen Sonne zurück.

Eine Passantin rief Rosa Gitta Martl, Obfrau des Roma-Vereins Ketani, zu Hilfe, die bei der Polizei erfahren konnte, dass 560 Euro Strafe für verbotenes Betteln offen waren. Oder elf Tage und 17 Stunden Gefängnis. Die Roma-Familie kratzte ihre eiserne Reserve zusammen, alle Münzen und kleinen Scheine, die man bei sich trug; der Rest wurde erlassen. 200 Euro pro Monat verdient ein Facharbeiter in Bulgarien, wo die Roma-Familie herkommt.

Betteln ist ein Menschenrecht, hat der Verfassungsgerichtshof im Vorjahr unmissverständlich festgestellt. Das war nicht immer so. Erst 1975 wurde in Österreich das seit der Monarchie geltende Bettelverbot aufgehoben. Die derzeitigen Gesetze sind allerdings so vage formuliert, dass sie der jeweiligen Stimmungslage in der Bevölkerung angepasst und im Zweifelsfall gegen die Ärmsten der Armen ausgelegt werden können.

Ausfransende Begriffe
In allen Bundesländern gibt es unterschiedlich präzise definierte Formen verbotenen Bettelns. Verboten ist es, „aggressiv“ zu betteln, sich Passanten in den Weg zu stellen, sie am Ärmel zu zupfen, den Eingang zu einem Geschäft zu blockieren. Verboten ist auch gewerbsmäßiges Betteln, ein nach allen Richtungen ausfransender Begriff und für viele Juristen ein Widerspruch in sich, denn wer bettelt, ist arm und tut es naturgemäß öfter als ein Mal. Verboten ist auch organisiertes Betteln, wobei der Grad der Organisation ebenfalls nirgendwo exakt definiert ist, und verboten ist darüber hinaus „demonstratives Zurschaustellen von Armut“.

An den Strafverfügungen lässt sich ablesen, wie Bettler drangsaliert werden. Schon die Worte „Bitte, bitte“ oder ein Schild, auf dem „Ich habe Hunger“ steht, werden als „aggressiv“ gewertet. „Durch das Sitzen und die auf den Gehsteig ragenden Beine war der Fußgängerverkehr im Ortsgebiet in erheblicher Weise behindert“, heißt es in einer Anzeige. Ein Bettler, der sich „vor Passanten hingestellt und diesen (...) beharrlich eine Rose entgegengestreckt“, dabei „immer wieder ,Bitte nehmen Sie Rose, bitte eine oder zwei Euro, bitte, schöne Rose‘“ gesagt habe, wurde „wegen massiver Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ mit einem fünfjährigen Aufenthaltsverbot bestraft.

In Wien sind 400 Anzeigen wegen organisierten Bettelns aktenkundig. Ein Beispiel: „Sie stellten sich mit 4 weiteren Personen Passanten in den Weg, streckten diesen ihre Hände entgegen und baten um Spende (...) In einem Abstand von ca 10 Minuten trafen sie sich mit den 4 weiteren Personen, um sich auszutauschen.“ Als Rechtsanwaltsanwärter Ronald Frühwirth dagegen Einspruch erhob, rechtfertigte sich die Behörde, man habe die Angezeigten „vor Einnahme der Bettelplätze immer wieder zusammenstehend beobachtet“; weiter wurde darauf verwiesen, dass „Blickkontakt aufgrund der Entfernung möglich war und auch festgestellt werden konnte“.

Zweimal hintereinander ertappt zu werden, kann eine Anzeige wegen gewerbsmäßigen Bettelns nach sich ziehen. In jedem Fall wird das Geld beschlagnahmt. Das führt dazu, dass fast alle Bettler alles, was sie bei sich tragen, untertags einer Vertrauensperson übergeben, was auf Beobachter so wirkt, als ginge ein Capo absammeln, und von den Behörden als Indiz für organisiertes Betteln gewertet wird. Auf dem Kommissariat müssen sie sich oft bis auf die Unterwäsche ausziehen, erzählen Bettler.

Auf irgendeine Weise sind zwangsläufig fast alle organisiert, doch nicht unbegingt im kriminellen Sinn: Sie kommen in Gruppen für zwei, drei Monate nach Österreich, haben einen Landsmann, der die Bettelplätze zuteilt, um Prügeleien zu vermeiden, der seine Leute in der Früh hinbringt und am Abend abholt. Da gibt es einen anderen, der Matratzen in Massenquartieren für 100 bis 200 Euro im Monat vermittelt, wieder einen anderen, der die Neuankömmlinge berät, eine Frau, die für alle kocht und wäscht. Mit der Zeit bilden sich Strukturen heraus, in denen einige vom Betteln leben, ohne selbst auf der Straße zu sitzen. Skrupellose Wohnungseigentümer verdienen sich eine goldene Nase, indem sie Dutzende Menschen zusammenpferchen.

„Ich habe Hunger. Ich bin obdachlos“
Zoltan, 60, hat ein von der Sonne gegerbtes Gesicht, blaue Augen, einen weißen Stoppelbart, Bluthochdruck und spricht ein schönes Deutsch. Von Beruf ist er Zimmermann und Tapezierer. Er hat in Österreich gearbeitet, ging nach Ungarn zurück, als er seine Arbeit verlor, und kam vor vier Jahren als Bettler wieder. Mehrmals schon war er im Gefängnis, weil er die Strafverfügungen nicht zahlen konnte. Zoltan bettelt mit einem Taferl: „Ich habe Hunger. Ich bin obdachlos.“ Das ist, streng genommen, schon gelogen, denn Zoltan wohnt in einem Vierbettzimmer in einem Arbeiterwohnheim, für das er 130 Euro im Monat zahlt.

Das Vorurteil der Zugehörigkeit zur Bettlermafia liegt als Generalverdacht über jedem Bettler und entlastet das schlechte Gewissen, nichts zu geben. („Der arme Hund hat eh nix davon.“) Erst vor wenigen Wochen wurde die „Kronen Zeitung“ vom Presserat verurteilt, weil sie unter dem Titel „Prunk, Pomp und Reichtum der Bettler-Mafia in ihrer Heimat“ vermeintliche „Roma-Paläste“ im Zuckerbäckerstil in der Nähe von Bukarest beschrieben hatte. Die Fotos, die gezeigt wurden, stammten aus einer Reportage aus „National Geographic“ aus dem Jahr 2012. Darin war es freilich nicht um Bettler, sondern um Roma gegangen, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus mit dem Diebstahl und Handel von Metallen reich geworden waren.

Fälle von Menschenhandel mit Bettlern wurden in Österreich erst zwei Mal ermittelt. Im ersten Fall machte ein Aktivist der sogenannten „Bettel-Lobby“ auf einen Mann aufmerksam gemacht, der ohne Beine und Arme in Wien auf der Straße lag. In richterlich genehmigter Telefonüberwachung bekam die Polizei einen Beweis in die Hand, weil für diesen Mann 2500 Euro und für eine Blinde ein paar hundert Euro gezahlt wurden. Die Menschenhändler kamen in Bukarest vor Gericht und wurden verurteilt. Täter wie Opfer stammten aus demselben Elendsmillieu.

Im zweiten Fall gibt es eine Anklage gegen 13 Personen, die demnächst in Wien vor Gericht stehen werden. Da wurde ein 33-jähriger Behinderter unter Einsatz von Folter, Hunger und Durst zum Betteln gezwungen. Bisher ist er das einzige Opfer, das den Missbrauch zugibt. Der Leiter der Ermittlungsstelle für Menschenhandel und Schlepperei, Gerald Tatzgern, klagt, wie schwer es sei, Bettler zur Kooperation zu bewegen. Sie fühlten sich nicht ausgebeutet und fürchteten Repressalien gegen ihre Familie. Dass die bestehenden Gesetze „oft schwierig anzuwenden“ sind, gibt Tatzgern zu.
„Bei Bettlern ist die Gesellschaft sehr sensibel, was die Ausbeutung betrifft“, bemerkt Caritas-Mitarbeiter Ferdinand Koller bitter. Manches im Umgang mit Bettlern erinnert an unheilvolle Zeiten. Es gibt wieder eine Bettlerkartei bei der Wiener Polizei und einen Stempel „Bettler“.

Im Mittelalter zeigten sich die Begüterten noch mildtätig, weil sie sich davon Einlass ins Himmelreich versprachen. Doch die Ärmsten der Armen waren bereits damals übel beleumundet. In der Neuzeit wurden Streifen üblich. Man steckte Bettler in Armenhäuser oder ließ sie strafweise an der Donau schiffziehen, sagt der Linzer Sozialhistoriker Roman Sandgruber. Unter Josef II. wurden Vaganten mit Gefängnis, Hunger und Gewalt zur tätigen Arbeitslust („industria“) angehalten. Die Verfolgung von „Asozialen“ im Nationalsozialismus stand in dieser Tradition.

„Diese Art von Not kennen wir nicht mehr“
Früher wie heute betteln Menschen aus Hunger, Krankheit und Elend. Vor 1989 hatten 90 Prozent der Roma in Rumänien, Ungarn, Slowakei und Bulgarien einen festen Wohnsitz und eine einfache Arbeit. In den Jahren der Privatisierung verloren sie als Erste ihre Beschäftigung. 20 Jahre nach der „Wende“ lag der durchschnittliche Stundenlohn in Bulgarien bei 1,11 Euro; in Österreich kann man an einem Tag 20 bis 30 Euro erbetteln.

Im vergangenen Winter richtete die Caritas in Linz eine Notversorgung ein. 126 Erwachsene und 43 Kinder, viele von ihnen ungarischsprachige Rumänen, konnten sich zwischen November und April in einem behelfsmäßig eingerichteten Lagerraum aufwärmen, einen Schöpfer Suppe essen oder eine Zahnbürste für ihre Kinder holen. „Viele haben nie eine besessen. Diese Art von Not kennen wir nicht mehr“, sagt Caritas-Geschäftsführerin Alexandra Riegler-Klinger.

Pfarrer Wolfgang Pucher nimmt sich seit 20 Jahren der Bettler in Graz an. Im Vorjahr fand er in den „Dreckslöchern der Stadt“, in Abbruchhäusern und windschiefen, aus Lehm und Abfällen zusammengebauten Hütten am Stadtrand rumänische Familien, „die nicht gekommen sind, um Geld zu sammeln, sondern um hier unter uns zu leben“. Jeder Tag im Keller seines Pfarrhauses, auf Matratzen, die er über Facebook zusammengeschnorrt hat, sei für sie ein Glück, das er, Pucher, selbst erst ermessen könne, seit er einige der Familien in einer Roma-Siedlung am Rande von Sfântu Gheorghe besuchte. „Dort ist die Katastrophe, die wir Europäer nicht sehen wollen.“
Der polizeiliche Vollzug ist frustrierend. 200 Anzeigen gab es heuer bereits in Oberösterreich, mehr als die Hälfte wegen „aggressivem Betteln, weil das organisierte Betteln schwer nachzuweisen ist“, sagt Landespolizeidirektor Andreas Pilsl. Im Sommer soll gewerbliches Betteln verboten werden. Pilsl hofft, dass „der Gesetzgeber klar in das Gesetz hineinschreibt, was damit gemeint ist“.

In Österreich herrscht eine Politik der Kriminalisierung, die potenzielle Spender verunsichert. Das bekommen Menschen wie die 28-jähriga Maja* jeden Tag zu spüren. Die Rumänin, die nie etwas anderes macht, als mit gesenktem Kopf und im Schneidersitz vor einer Bäckerei in Wien zu sitzen, vor sich einen alten Kaffeebecher, musste bereits 400 Euro für „aggressives Betteln“ zahlen. Einmal brachten Polizisten mehrere Strafverfügungen auf einmal vorbei und drohten, sie ins Gefängnis zu stecken.

Seit Anfang des Jahres ist der Arbeitsmarkt für Rumänen geöffnet. Maja würde alles machen, putzen oder Regale einräumen, hat aber kaum noch Hoffnung, eine bezahlte Beschäftigung zu finden. Den Ältesten ihrer drei Buben brachte sie mit 14 Jahren zur Welt, für eine Ausbildung blieb keine Zeit. 2009 kam sie zum ersten Mal zum Betteln nach Wien. Als ihre Mutter krank wurde, holte sie die Kinder nach. Sie gehen hier zur Schule, ihr Mann hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Das Geld reicht kaum für die kleine Einzimmerwohnung, in der sie zu fünft leben. Manchmal zischen Passanten ihr im Vorbeigehen das Wort „Mafia“ zu.

EU-Bürger können nur abgeschoben werden, wenn sie gegen die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ verstoßen. Würde man sie – wie in Frankreich – zur Ausreise nötigen, könnten sie am nächsten Tag wiederkommen. Der Sozialpsychologe Heinz Schoibl erforschte die Lage der „Notreisenden“ in Salzburg, von denen ein Teil stadtnahe Bauernhöfe nach stundenweiser Arbeit abklappert und „vielleicht 30, 40, überwiegend Frauen und behinderte Männer“ auf der Straße betteln: „Viel mehr verträgt Salzburg nicht, auch aus Sicht der Bettler, sonst stehen sie einander im Weg.“ Rede man sie auf Hintermänner an, „kichern sie höchstens – die Mär von der Mafia hat sich zu ihnen durchgesprochen“. Auch französische Forscher, die in Lausanne Bettler über Wochen hinweg beobachteten, fanden keinen Hinweis auf organisierte Kontakte außerhalb der Familie.
Der Anblick der Armen ist nicht schön. Aber es gäbe auch einen entspannteren Umgang mit ihnen. In Hamburg und einigen anderen deutschen Städten etwa übernimmt die kommunale Verwaltung ihre „Organisation“. Saubere Unterkünfte am Stadtrand und keine Massenquartiere, an denen Wucherer verdienen. Die Bettler werden in städtischen Bussen ins Zentrum gebracht und abends wieder abgeholt, ganz ohne öffentliches Aufheben. Vielleicht funktioniert es deshalb.

*Name von der Redaktion geändert

Buchtipps
Stefan Benedik, Barbara Tiefenbacher, Heidrun Zettelbauer: Die imaginierte Bettlerflut. Drava Verlag 2013. 156 Seiten. Euro 14,80.

Ferdinand Koller: Betteln in Wien. Lit Verlag 2012. 166 Seiten. Euro 19,90.

Norbert Mappes-Niediek: Arme Roma, böse Zigeuner. Links Verlag 2013.
Euro 16,90.

Sarah Pichlkastner: Das Wiener Stadtzeichnerbuch 1678–1685. Ein Bettlerverzeichnis aus einer frühneuzeitlichen Stadt. Böhlau Verlag 2014. Euro 79,80.

+++ Lesen Sie hier: Lebende Mahnmale - Auf der Wiener Mariahilfer Straße stößt man auf das Elend vom Rande Europas +++

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.