"Banalität des Guten"

ORF-Anchor Tarek Leitner über sein Buch zum Gedenkjahr: zwei Reisen seines Vaters von Berlin nach Linz.

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profil: Sie beschreiben das Leben Ihres Vaters als unspektakulär. Was kann man daraus lernen? Leitner: Unspektakulär nenne ich es aus dem Grund: Obwohl mein Vater die turbulenteste Zeit des 20. Jahrhunderts als erwachsen werdender Mensch erlebte, war er in keiner der klassischen Rollen: kein Held, kein Täter, kein Opfer. Deshalb war es interessant: Wie hat man die Zeit als Jugendlicher erlebt, gerade in der unspektakulären Vita, die millionenfach zu finden ist. Und in der ich immer den Gegenwartsbezug gesucht habe.

profil: Ihr Buch schildert zwei Reisen Ihres Vaters von Berlin nach Linz, einmal im Jahr 1938, einmal 1945. Wie kam es zu diesen Reisen? Leitner: Die erste Reise war der Kauf eines Autos: Es war in Berlin abzuholen, der Großvater nahm den Vater auf den neuen Reichsautobahnen mit. Weil damals, 1938, circa so viel Verkehr wie in der Corona-Zeit war, konnte mein zwölfjähriger Vater sogar ans Steuer. Die zweite Reise machte er 1945 als Wehrmachtssoldat. Er hätte Berlin vor der heranrückenden Roten Armee schützen sollen. Als sich alles auflöste, tauschte er eine Uhr gegen ein Fahrrad und fuhr auf der Reichsautobahn nach Linz. Diese Analogie fand ich eine bemerkenswerte, dieselbe Strecke noch einmal zu fahren.

profil: Sie schildern, dass Ihr Vater bemerkenswert unpolitisch durch die NS-Zeit ging. Leitner: Genau das hat mich interessiert. Ich schreibe es in Anlehnung an Hannah Arendts These von der Banalität des Bösen-bei meinem Vater gibt es das umgekehrt, die Banalität des Guten. Das fand ich besonders aus Sicht des hypermoralischen Austauschs in den sozialen Medien spannend. Der Zugang wäre meinem Vater fremd: Er war mit Umwälzungen in der Welt konfrontiert, zog seine Schlüsse aber aus ganz banalen Gründen, und die führten zum Guten. Er musste etwa ewig auf Adolf Hitlers Auftritt am Linzer Hauptplatz warten. Pünktlichkeit war für ihn ein hohes Gebot, aus dem banalen Grund war ihm Hitler suspekt. Oder: Er wandte sich von der Hitlerjugend ab, weil er sich nicht von Gleichaltrigen das Marschieren beibringen lassen wollte. Diese Kleinigkeiten haben zu einer Haltung geführt. Deswegen nenne ich das die Banalität des Guten.

profil: Ihre Buchpräsentation wurde von der Corona-Krise vermasselt - steht das Gedenkjahr im Schatten der Corona-Krise? Leitner: Wir erleben derzeit Freiheitsbeschränkungen - aber aus einem sehr guten Grund: der Gesundheit. Nicht dass ich der Corona-Krise etwas Positives abgewinnen will - aber gerade der Entzug von Freiheit führt uns stärker als bei anderen Gedenktagen den Wert von Freiheit vor Augen.

TAREK LEITNER: Berlin-Linz. Wie mein Vater sein Glück verbrauchte Brandstätter Verlag; 240 Seiten

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin