Interview

Bildungsdirektor Himmer: „Wir sind nicht die Hilfssherrifs“

Bildungsdirektor Heinrich Himmer über die holprige Zusammenarbeit zwischen Schulen, Jugendamt und Polizei, wenn es um Kinderschutz geht.

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12.000 Mal pro Jahr wird in Wien Alarm geschlagen, weil es Kindern nicht gut geht, 2000 Mal davon in Schulen. Viele fühlen sich mit dem Thema alleingelassen oder bekommen Signale vom Jugendamt, nicht so viel anzuzeigen. Was tun?
Himmer

Wenn Pädagogen Verdacht schöpfen, vertraue ich darauf, dass die Anzeichen dafür ernst genug sind.

In der Praxis wechseln Kinder, die körperliche oder sexualisierte Gewalt erleben, einfach die Schule.
Himmer
Das Jugendamt muss weder die Bildungsdirektion als Behörde noch die einzelne Schulleitung informieren. Ob das gut ist oder man gesetzliche Auskunftspflichten vorsehen sollte, ist eine gesellschaftliche Frage.
Oft erleben Lehrerinnen und Lehrer über Jahre mit, wie Kinder leiden. Sollten sie stärker einbezogen werden?
Himmer
Die Abgrenzung, bis wohin sie sich zuständig fühlen und ab wann sie erwarten können, dass andere Institutionen eingreifen, ist schwierig.
Die meisten würden gerne ihren Bildungsauftrag erfüllen und unterrichten. Belastend ist eher, wenn sie eine Gefährdung melden und nichts mehr hören.
Himmer
Dass unterschiedliche Institutionen nicht miteinander verknüpft sind, ist tatsächlich ein Problem. Auch wir als Behörde erfahren von der Staatsanwaltschaft aus Datenschutzgründen oft nichts. Bei strafrechtlich relevanten Vorfällen haben wir nun mit dem Landeskriminalamt einen Informationsaustausch vereinbart. Bisher wurde er völlig unterschiedlich gehandhabt, weil klare Schnittstellen fehlen.
Angenommen, ein Mann wird weggewiesen, weil er die Mutter mit dem Messer bedroht. Die Schule der Kinder erfährt nichts. Bei allem Respekt für die Persönlichkeitsrechte des Gefährders, ist da nicht eine Lücke zu schließen?
Himmer
Darüber muss man rechtlich und politisch nachdenken: Wie schafft man es, den Datenschutz mit der notwendigen Information abzugleichen? Schule ist ein Ort, an dem der Querschnitt der Bevölkerung zusammenkommt. Das System ist auf Vertrauen aufgebaut. Das wird erschüttert, wenn man Kinder auf dem Weg zu mündigen Erwachsenen begleiten soll, aber hilflos danebensteht, wenn ihr Wohl gefährdet ist.
Genau das empfinden Lehrerinnen.
Himmer
Die Schuld trifft keinen Einzelnen, keine Einzelne. Alle Behörden, von der Polizei über das Jugendamt bis zur Bildungsdirektion, sind bestrebt, dass es den Kindern und dem Schulpersonal gut geht.
Woran liegt es also?
Himmer
Vor allem daran, dass die Information ein Fleckerlteppich sind, es keinen elektronischen, behördenübergreifenden Akt gibt, in den ich als Schule hineinschauen kann, um zu erkennen: Ah, da ist das Jugendamt dran. Oder die Polizei. Oder die Staatsanwaltschaft. Häufig scheitert die Informationsweitergabe daran, dass sie nicht erlaubt ist. Wenn, dann erfährt man etwas unter der Hand; das kann in einem Rechtsstaat keine Grundlage sein.
In Großbritannien sind Kinderschutzzentren an Schulen angedockt und es gibt ein straffes Case Management.
Himmer
Das ist eine Überlegung wert. Es geht schließlich immer um denselben Menschen. Mit der Wiener Polizei etwa tauschen wir uns seit einigen Jahren bei Anzeigen an Schulstandorten aus. In zwei Monaten veranstalten wir einen Runden Tisch mit Eltern, Lehrerinnen, Jugendamt, Polizei, Kinder- und Jugendanwaltschaft, Kinderschutzexperten, Vertretern von Parteien und Religionsgemeinschaften. Außerdem haben wir in der Bildungsdirektion eine Kompetenzstelle Kinderschutz eingerichtet.
Was hilft das einer Direktorin, die in konkreten Fällen erlebt, dass Unterstützung ausbleibt, weil Behörden überlastet sind, Krisenplätze fehlen oder eine Hand nicht weiß, was die andere macht?
Himmer
Ich kann nachvollziehen, dass man das Gefühl hat, es müsste anders oder schneller gehen. Dass wir damit niemanden allein lassen, ist auch das Ziel unserer Kompetenzstelle. Im Sinne der Gewaltenteilung muss man allerdings akzeptieren, dass man für einen Teil zuständig ist und für einen anderen eben nicht.
Es läuft aber zweifellos einiges schief, wenn Kinder übrig bleiben.
Himmer
Bei der Analyse sind wir uns einig. Die Frage ist, wer genau was tun kann. Wir können nicht an der Wohnungstür anklopfen. Natürlich hilft Sozialarbeit an den Schulen. Sie wurde ausgebaut, aber nicht jede Schule hat jemanden vor Ort. Man kann stets mehr fordern, aber wir müssen auch mit unseren Möglichkeiten dafür sorgen, dass eben kein Kind übrig bleibt.
Pädagogen können ihren Auftrag, Bildung zu vermitteln, gar nicht erfüllen, wenn Kinder missbraucht oder verängstigt in der Klasse sitzen.
Himmer
Da halte ich es mit der berühmten Pädagogin Ruth Cohn, die gesagt hat: Störungen haben Vorrang. Je genauer man hinschaut, desto mehr fällt auf. Ich weiß, wir sind nicht die Hilfssheriffs, aber tun alles in unserer Macht Stehende, damit es den Kindern besser geht.
Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges