Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Stromab

Stromab

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Ja. Ja. Nein. Das sind die Antworten auf die oben formulierten Fragen. Die gesamte Katastrophe von Japan – Erdbeben, Tsunami, Reaktorunfall – und ihre Auswirkungen – Verstrahlung, Wirtschaft, Energiepolitik – lassen sich also in acht Buchstaben zusammenfassen. So einfach ist das.

Und jetzt erwartet der geschulte Leser natürlich ein: „… oder auch nicht.“ Zu dieser Einschränkung bin ich aber nicht bereit. Ich halte eine langwierige Abwägung der Für und ­Wider in diesem Fall für nicht notwendig. Die Antworten sind eindeutig. Ich denke, das geht auch auf einer Seite. Konträre Meinungen sind herzlich willkommen, sie finden einige auch in diesem Heft. Alsdann.

Mehr Hysterie als Schaden? Ja.
Hier zwei Rechnungen. Laut Schätzungen japanischer Behörden sind ein bis zwei Millionen Menschen direkt von den Folgen der Katastrophe betroffen. Das umfasst die Schäden durch das Erdbeben, den Tsunami und die unkontrollierbaren Atomreaktoren. Selbstverständlich geht es hier nicht um eine entsprechende Zahl von Toten. Nehmen wir den – ökonomisch – schlimmsten Fall an: dass diese Menschen ihre Häuser, Wohnungen und ihr restliches Hab und Gut verloren haben. Somit sprechen wir von plus/minus einem Prozent der rund 130 Millionen Japaner und von deren Vermögen. Wenn also ein Hundertstel des Volksvermögens (Industrieanlagen anteilig eingerechnet) vernichtet wurde, dann ist das sehr wenig. Selbst wenn wir die indirekten Schäden dazurechnen, die sich aus Produktionsausfällen und Vertrauensverlust in japanische Produkte ergeben, wird die Summe minimal bleiben.

Die andere Rechnung: Die Schäden wurden – sicherlich extrem ungenau – in der vergangenen Woche mit 130 Milliarden Dollar beziffert. Das japanische Bruttoinlandsprodukt belief sich 2009 auf 5068 Milliarden Dollar. Die Katastrophe kostet unmittelbar also zweieinhalb Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Das ist weniger als das Wirtschaftswachstum eines einzigen Jahres (Wachstum 2010 laut Nomura 2,9 Prozent).

Wir lernen: Die unglaublichen Bilder von den Auswirkungen des Tsunamis, die eine flächendeckende Verwüstung Japans vermuten lassen, täuschen. Die Wahrheit: Ein Prozent der Insel ist zerstört worden. Das ist Hysterie, erzeugt durch Fantasie.

Ist damit auch das Thema „Hysterie rund um die Nuklearkatastrophe“ erledigt? Wenn es um finanzielle Schäden geht, wohl schon. Die sind in den Berechnungen ja einbezogen. Selbst ein Super-GAU würde daran nichts ändern, selbst eine erhöhte Strahlungsbelastung in Tokio nicht. Somit auch hier mehr Hysterie als Schaden. (Und da braucht’s gar nicht das Argument, dass die Wasserkraft hundertfach mehr Menschenleben gekostet und Kulturlandschaften unbewohnbar gemacht hat als die Atomindustrie.)

War das zynisch? Nein, bloß eine gerade Rechnung. Die lässt jedoch manches außer Acht. Nicht unbedingt das: Es sind zigtausend Menschen ums Leben gekommen, allerdings durch Naturgewalt, somit unabwendbar und ohne schuldhaftes Verhalten. (Im Gegenteil: Die Häuser haben dem Erdbeben formidabel widerstanden.) Aber das: doch wieder die kaputten Kraftwerke. Da sind aufgrund von fehlerhafter Technologie Menschen ihrer Existenz beraubt worden, für eine große Anzahl besteht eine zumindest vage gesundheitliche Gefährdung. Vor allem aber: Die Auswirkungen eines Super-GAUs in anderen Weltgegenden wären größer. Zum Beispiel in Wien. Das tschechische AKW Dukovany (mit mangelhaftem Containment) liegt 100 Kilometer von Wien, das slowakische Bohunice (die gleiche Schwachstelle) 120 Kilometer. Das ist ungleich näher als die Entfernung Tokio–Fukushima. Und kein Meer, wo Radioaktivität diffundieren kann (wie bei Sendai). Die Entfernung zwischen Bohunice und einer halben Million Menschen in Bratislava beträgt 33 Kilometer. Noch Fragen?

Aber es kann ja nichts passieren: keine Erdbebenlinie, kein Tsunami.
Daran glaubt jetzt niemand. Die Ansammlung der besten Wissenschafter und Techniker weltweit – Physiker, Seismologen, Risikoforscher, Maschinenbauer, Statiker, Materialtechniker – hat in Tateinheit mit den Chefs von Weltkonzernen und Spitzenpolitikern massive Fehleinschätzungen ­getroffen: falsche Gefahrenbewertung, untaugliche AKW-Konstruktionen, unzureichende Sicherheitssysteme. Noch zu analysieren wird sein, wer da grob fahrlässig gehandelt hat und wer vorsätzlich.

Daher wird sich jetzt alles ändern, es kam schlimm genug und hätte schlimmer kommen können, daher keine Atomkraftwerke mehr, die bestehenden werden innerhalb weniger Jahrzehnte stillgelegt? Aber sicher nicht. In einem Jahr wird die japanische Nuklearkatastrophe Geschichte sein, egal, was in den nächsten Wochen noch passiert. Das werden sich Politiker und Konzerne zunutze machen: keine Energiewende, keine Abkehr von der Atomkraft. Weil das der einfachere Weg ist, weil er ­höhere Gewinne verspricht.

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