Interview

Christopher Clark: „Die Zukunft hat sich verdünnisiert“

Ukraine, Gaza, Rechtspopulismus: Können wir aus der Geschichte lernen? Ist die Welt noch zu retten? Ein Gespräch mit dem Historiker Christopher Clark.

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Es fällt uns manchmal schwer, die große Geschichte zu erkennen, in der wir gerade drinstecken. Was sieht der Historiker?
Clark
Zunächst einmal, dass sich unsere kollektiven Identitäten verflüssigen. Das große Zeitungs-oder Fernsehpublikum gibt es nicht mehr. Die politischen Parteien bieten keinen Anker. Soziale Medien zersplittern die Meinungslandschaft. Eine allgemeine Kartierung der Gegenwart fällt schwer. Sie wird immer unberechenbarer.
Macht Ihnen die Lage der Welt Angst?
Clark
Angst nicht, aber ein dröhnendes Unwohlgefühl. Es häufen sich die Krisen und gleichzeitigen Herausforderungen, die jeweils verschiedenen Logiken folgen und Maßnahmen erfordern, die oft widersprüchlich sind. Das verunsichert mich zutiefst und vor allem auch jüngere Menschen. Nicht nur, dass sie nicht mehr selbstbewusst in die Zukunft blicken, sie zweifeln, dass es überhaupt eine gibt. Die Zukunft hat sich verdünnisiert.
Was tun Sie gegen das Unwohlsein?
Clark
Ich versuche, schlechte mit guten Nachrichten abzugleichen. Der jüngste Wahlsieg von Geert Wilders in Holland etwa ist eine schreckliche Nachricht. Auf der anderen Seite gibt es jedoch Donald Tusk in Polen.
In Amerika wie in Europa greifen Rechtspopulisten, Feinde der Demokratie und Neofaschisten nach der Macht. Lernen wir zu wenig aus der Geschichte?
Clark
Mark Twain hat gesagt, die Geschichte wiederholt sich nie, aber manchmal reimt sie sich. Neonazis, die mit Fackeln herumlaufen, haben aus meiner Sicht gar nichts gelernt. Vielleicht wollen sie aber auch bewusst in eine Katastrophe wie den Nationalsozialismus hineinspringen. Davon abgesehen: Es kommt darauf an, was mit Geschichte gemeint ist. Die Zahnmedizin ist eindeutig besser als vor zehn oder 20 Jahren. Man könnte also sagen, jedenfalls die Zahnärzte sind fähig, aus der Geschichte ihres Faches zu lernen. Dass wir uns als politisch entscheidende Wesen verbessert haben, ist jedoch zweifelhaft, wenn wir an Trump, Putin oder Orbán denken. Politisch verläuft die Entwicklung alles andere als linear.
Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges