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Streitgespräch: Sind die Hürden zur Staatsbürgerschaft zu hoch?

Ja, die Staatsbürgerschaft ist zu teuer, argumentiert Ilkim Erdost, Expertin der Arbeiterkammer. Claudia Plakolm, Jugendstaatssekretärin und ÖVP-Politikerin, kontert: Wer will, der kann.

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profil: Sie sind in Walding aufgewachsen, einer kleinen Gemeinde im Norden von Linz. Gab es in Ihrer Volksschule Kinder ohne österreichische Staatsbürgerschaft?
Plakolm: 4500 Einwohner, so klein ist das gar nicht. In meinem Jahrgang gab es viele Geflüchtete aus Ex-Jugoslawien, in meiner Klasse waren es zwei. 
profil: Frau Erdost, Sie bekamen die österreichische Staatsbürgerschaft nicht in die Wiege gelegt. Fühlten Sie sich zwischen der Türkei und Österreich hin und her gerissen?
Erdost: Ich habe die Staatsbürgerschaft mit zehn Jahren bekommen. Es war eine Entscheidung der Familie, dass wir Österreicherinnen und Österreicher sind, deshalb war das kein Konflikt, sondern ein eindeutiger Weg. Außerdem war das Staatsbürgerschaftsrecht damals, Anfang der 1990er- Jahre, einfacher, die Verfahren waren kürzer und kosteten nicht so viel. 

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Ilkim Erdost, 42, war SPÖ-Bezirksrätin in Wien-Ottakring und leitete den Verein Wiener Jugendzentren. Im Herbst wechselte sie in die Arbeiterkammer Wien, zuständig für Bildung und Konsumentenschutz.

profil: ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner steckte die Parteilinie mit dem Satz ab, die Staatsbürgerschaft dürfe nicht für das „Hiersein“ vergeben werden. 
Plakolm: Ich kann nur beipflichten: Die Staatsbürgerschaft zu beantragen, ist ein Meilenstein, eine Lebensentscheidung, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die mit Rechten und Pflichten verbunden ist. Wenn man diese trifft, etwa um das Wahlrecht zu erhalten, entscheidet man sich dafür, Verantwortung in diesem Staat zu übernehmen. In der Mehrzahl der Fälle bedeutet dies, eine andere Staatsbürgerschaft aufzugeben. Wer sich nicht dazu entscheidet, fühlt sich eben einem anderen Land zugehörig und hat dann dort das Wahlrecht. 
Erdost: Allerdings sind inzwischen die Einkommenshürden für die Einbürgerung so hoch, dass selbst 30 Prozent der Wiener Beschäftigten mit österreichischer Staatsbürgerschaft sie nicht erfüllen könnten. Es gibt viele junge Menschen, die sich engagieren, aber politisch nicht mitbestimmen dürfen. In Österreich haben mittlerweile 250.000 Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, nicht die Staatsbürgerschaft. Das müsste uns alarmieren, weil irgendwann die Politik ein Legitimationsproblem bekommt. Man darf auch nicht herunterspielen, was dieser Ausschluss vor allem mit Jungen macht.  
Plakolm: Diese 250.000 Menschen können weder Statistik Austria noch Innenministerium nachvollziehen. Faktum ist – das sind Zahlen, die am Tisch liegen –, dass im Vorjahr über 16.000 Menschen eingebürgert wurden. In den Jahren zuvor waren es konstant rund um 8000. Für junge Menschen, die hier aufgewachsen sind, sehe ich die Verantwortung klar bei den Eltern. Gerade bei Kindern, die hier geboren sind, gibt es Erleichterungen für die Staatsbürgerschaft: sechs statt zehn Jahre Aufenthalt, auf ein Fünftel verringerte Kosten. 

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Erdost: Alleinerziehende und Menschen im unteren Einkommensdrittel schaffen die Einkommenshürden kaum. Darunter befinden sich viele Systemerhalterinnen und Systemerhalter, die uns durch die Pandemie getragen haben, Beschäftigte in der Pflege oder in Supermärkten. Kinder und Jugendliche, die in Familien aufwachsen, die sich ohnehin abstrudeln, werden als Ausländerkinder abgestempelt und ausgegrenzt und haben keine Chance auf die Staatsbürgerschaft. Dass sich diese Diskriminierung in junge Biografien einschreibt, sollte uns wirklich allen Sorgen machen. 

profil: Was macht das mit jungen Menschen? 
Erdost: Das Zugehörigkeitsgefühl leidet, wenn in Schulklassen ein Drittel oder mehr nicht wählen darf. Oft zeigt sich eine Trotzreaktion. Politik wird zu etwas, das für andere und von anderen gemacht wird. Mit Blick auf die Integration ist das kontraproduktiv. Viele schleppen einen Rucksack aus Frustration und Ohnmacht mit sich, der im Erwachsenenalter schwer abzulegen ist. Politik kämpft ohnedies mit einem massiven Vertrauensverlust. Das Staatsbürgerschaftsrecht leistet dem Vorschub.
Plakolm: Demokratie wird natürlich stark im Elternhaus gelehrt, gelernt und gelebt, und das ist einer der wichtigsten Werte, der mit der Staatsbürgerschaft verbunden ist. Wenn wir vom Wahlrecht reden, das die Kinder nicht haben, ist das ganz klar die Verantwortung der Eltern, sich um die Staatsbürgerschaft und damit um das Wahlrecht zu kümmern. Für die Einbürgerung muss man Sprachkenntnisse nachweisen, einen Test absolvieren, der das historische Verständnis für unser Land bekräftigt, Einkommensvoraussetzungen erfüllen und unbescholten sein. Wir sehen zehn Jahre nach jeder großen Migrationsbewegung einen enormen Anstieg bei den Verleihungen. Das zeigt doch, dass die Voraussetzungen zu schaffen sind. 
Erdost: Den jüngsten Anstieg hatten wir, weil die Nachkommen von Holocaust-Opfern eingebürgert wurden.  
Plakolm: Wir haben diesen Anstieg ganz klar zehn Jahre nach dem Jugoslawien-Krieg gesehen. Was die NS-Opfer betrifft: Das wurde 2020 einstimmig im Parlament beschlossen. Es ist absolut wichtig, den Nachfahren jener Menschen, denen man ihre Existenz, ihr Hab und Gut und ihre Identität geraubt hat, die Staatsbürgerschaft zurückzugeben.
Erdost: Absolut, das war ja keine Kritik! Ich finde es nur unfair, sie gegen jene auszuspielen, die hier aufwachsen. Sie haben ja recht, dass die Eltern in die Verantwortung zu nehmen sind. Es ist aber auch die politische Bildung einzubeziehen. Genau hier liegt das Problem. Die fehlende österreichische Staatsbürgerschaft führt dazu, dass Politik kein Thema am Küchentisch ist.

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Plakolm: Das Thema müssen wir generell angehen. Politische Bildung muss in Lehrplänen und Klassenzimmern stärker verankert werden. Seit 15 Jahren sind wir eines von zwei europäischen Ländern – Malta folgte 2017 –, wo es möglich ist, mit 16 zu wählen. Aber es reicht nicht, mit 16 Jahren Demokratie im Klassenzimmer zu vermitteln. Dieses Werteverständnis kann in der Volksschule beginnen.
profil: Die soziale Schieflage kritisieren Experten schon lange: Wenn ein erheblicher Teil der Österreicherinnen und Österreicher an den Hürden scheitern würde …
Plakolm: … wollen Sie hinterfragen, ob man ihnen die Staatsbürgerschaft wegnehmen sollte? Diese Diskussion führe ich auf keinen Fall. Die Zahlen sprechen wie gesagt für sich: Zehn Jahre nach jeder Migrationswelle gibt es einen Anstieg an Einbürgerungen. In Summe sind die Voraussetzungen ganz klar und zumutbar. Wir werden an ihnen nicht rütteln. Es hat einen Grund, warum das im Regierungsprogramm  nicht vorgesehen ist.
Erdost: In Kreisen der Wirtschaft sieht man das anders. Leichtere Einbürgerungen würden auch Perspektive geben für ausländische Fachkräfte.  

Plakolm: Was qualifizierte Zuwanderung betrifft, haben wir bereits die Rot-Weiß-Rot-Karte reformiert. Das ist der Hebel, wenn es um Wirtschaft und Beschäftigung geht. Wir haben Erleichterungen für Branchen mit Personalmangel geschaffen, vom IT-Bereich über den Tourismus bis zur Pflege, damit man projektbezogen, unkompliziert, auch ohne Studium, zuwandern und am Arbeitsmarkt teilhaben kann.

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Claudia Plakolm, 27, war Gemeinderätin in Walding, ist Bundesobfrau der Jungen ÖVP, saß vier Jahre lang für die ÖVP im Parlament (2017 bis 2021) und ist seit Dezember als Staatssekretärin im Bundeskanzleramt für die Anliegen der Jugend zuständig.

profil: Die ÖVP betont, die Staatsbürgerschaft soll die Krönung der Integration sein. Was stört Sie daran, Frau Erdost?
Erdost: Die Staatsbürgerschaft darf nicht zu einem Elitenklub werden. In dieser Hinsicht befinden wir uns an einem Kipppunkt. In manchen Wiener Bezirken haben nur 50 Prozent jener, die dort wohnen, die Möglichkeit, mitzubestimmen. Ohne gesetzliche Änderungen wird sich nichts ändern. Im Gegenteil: Österreichweit wächst die Bevölkerung, während die Anzahl der Österreicherinnen und Österreicher allein vergangenes Jahr um mehr als 9000 geschrumpft ist. Sich zugehörig zu fühlen, mitbestimmen und gesichert bleiben zu können, ist für viele weitaus wichtiger, als Sie glauben. 
Plakolm: Wie Sie eingangs festgestellt haben, ist das eine Lebensentscheidung: Möchte ich Verantwortung übernehmen oder nicht. Unsere Staatsbürgerschaft hat einen extrem hohen Wert, laut einem Ranking ist der österreichische Pass – mit dem deutschen – der zweitwertvollste weltweit, weil damit eine unkomplizierte Mobilität verbunden ist. In einem Punkt muss ich klar widersprechen: Die Staatsbürgerschaft ist nicht einer Elite vorenthalten. Wie gesagt, wir haben im vergangenen Jahr 16.000 Menschen eingebürgert. Was ich spannend finde: Die Arbeiterkammer sieht das Wahlrecht als Thema Nummer eins, offenbar geht es ihr weniger um Beschäftigung und Arbeitsmarkt. Was das Wahlrecht betrifft, sehe ich im Falle junger Menschen die Eltern in der Pflicht. Man kann aber nicht zu 100 Prozent davon ausgehen, dass die Werte, die im Elternhaus vermittelt werden, mit unseren vereinbar sind. Deswegen ist es so wichtig, dass der Integrationsprozess der Erlangung der Staatsbürgerschaft vorangehen muss. 

profil: Kümmern sich Politiker ausreichend um Menschen, die nicht wählen können? Was bedeutet es für die Demokratie, wenn die Bevölkerung, die wählen darf, schrumpft, während die Bevölkerung insgesamt wächst? 
Plakolm: Wir kümmern uns um alle, die in Österreich leben. Das Ziel ist, eine Verbesserung – in meinem Fall für junge Menschen – zu bewirken, ein gutes Zusammenleben in diesem Land zu fördern. Wenn sich die Debatte um das Wahlrecht dreht, die nur eine Facette der Rechte ist, die mit der Staatsbürgerschaft verbunden sind, wiederhole ich mich: Es gibt Voraussetzungen, die erfüllbar sind. Sie sind auch wirtschaftlich zumutbar. Ganz generell müssen wir schauen, dass junge Menschen das Demokratieverständnis an kommende Generationen weitergeben. Es ist nicht selbstverständlich, dass jene, die wählen dürfen, auch wählen gehen. Da braucht es verstärkt politische Bildung in den Schulen. Das 15-Jahres-Jubiläum für „Wählen ab 16“ sehe ich als Anlass, junge Menschen darin zu bestärken, teilzuhaben. 
Erdost: Das Jubiläum hat einen bitteren Beigeschmack, wenn in den jüngeren Altersgruppen viele nicht wählen können und dieser Anteil besonders stark wächst. Hier schauen wir einer Entwicklung zu, die im Sinne unserer demokratischen Prozesse aufzuarbeiten uns große Anstrengungen kosten wird. Insofern sehe ich das Wahlrecht nicht als Randthema. Auch für uns als Arbeiterkammer lebt die Demokratie davon, dass sich viele beteiligen.
Plakolm: Interessant, ich dachte, der Arbeiterkammer geht es mehr um den Arbeitsmarkt.
Erdost: Die Grundfeste der ArbeitnehmerInnenbewegung ist die Demokratisierung der Gesellschaft. Und wenn ich ergänzen darf: Die Verleihung der Staatsbürgerschaft hat einen stabilisierenden Effekt am Arbeitsmarkt. Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft haben bessere Chancen und stabilere Beschäftigungsverhältnisse, sie verdienen mehr und sind weniger arbeitslos.
Plakolm: 62 Prozent, also zwei Drittel jener, die hier geboren sind und in zweiter Generation hier leben, bekommen die Staatsbürgerschaft. Ich bin schon der Meinung, dass jedes Land über die Voraussetzungen selbst bestimmen darf. 

Erdost: Kinder und Jugendliche hängen von Voraussetzungen ab, die sie mitkriegen. Sie können zwar schon nach sechs statt erst nach zehn Jahren eingebürgert werden. Alle anderen Bedingungen aber müssen sie genauso erfüllen, auch die Einkommensgrenzen. Dieser Realität muss man ins Auge sehen. 
Plakolm: Die Kosten für eine Einbürgerung, die ja Landeskompetenz ist, betragen auf die zehnjährige Dauer bis zur Verleihung verteilt 100 Euro pro Jahr. Diesen Betrag auf die Seite zu legen, ist jedem zumutbar. 
Erdost: Die Resultate sind, wie sie sind. Dieses rigide Staatsbürgerschaftsgesetz produziert soziale Ungleichheit und ein demokratiepolitisches Ungleichgewicht. Selbst wenn wir heute die Bestimmungen lockern, würden wir die Effekte, vor allem, was den Wahlzugang betrifft, erst in vielen Jahren sehen. Ich halte es für fahrlässig, weiter zuzuschauen. 
Plakolm: Die klaren und erfüllbaren Voraussetzungen für die Staatsbürgerschaft gibt es in unserem Land seit vielen Jahren aus gutem Grund. Unbescholtenheit gehört dazu, dass ich einen Test machen und Sprachkenntnisse nachweisen muss, zehn Jahre dauerhaft in Österreich lebe …
Erdost: … und dazwischen nicht einmal woanders studieren darf. Ein Auslandssemester bedeutet für in Wien geborene Studierende mit einem anderen Pass als dem österreichischen, dass sie wieder jahrelang kein Recht auf die österreichische Staatsbürgerschaft haben. Das ist alles absurd.
Plakolm: Entschuldigen Sie, aber die Argumentation hinkt gewaltig. Wer in Österreich geboren wurde, kann mit sechs Jahren eingebürgert werden. Wenn also jemand mit 19 Jahren kein Auslandssemester machen kann, sind 13 Jahre ungenutzt verstrichen, in denen die Eltern die Staatsbürgerschaft beantragen hätten können.


Moderation: Edith Meinhart
Fotos: Michael Rausch-Schott

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges