Corona-Bilanz: Sven Gächter über 50 Tage Ausnahmezustand

50 Tage Ausnahmezustand - und das war erst der Anfang! Eine Zwischenbilanz aus sicherer Mindestdistanz.

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Unglaublich, was einem in weniger als acht Wochen alles entgehen kann! Das Skiweltcup-Finale. Die 13. Staffel von "Dancing Stars". Die K.-o.-Phasen der Champions und Europa League. Die Diagonale in Graz. Die ersten fünf Rennen der Formel-1-Saison. Der Eurovision Song Contest. Die Mai-Kundgebung in Wien. Das Ski-Closing in Ischgl mit Eros Ramazotti. Die Marillenblüte in der Wachau. Die Konzerte von Carlos Santana und Avril Lavigne in der Wiener Stadthalle. Der Ostergottesdienst im Stephansdom. Die Eröffnung der Albertina Modern. Der Vienna City Marathon.

Jedes dieser Ereignisse wäre, je nach persönlichen Vorlieben, eine willkommene Abwechslung von der Corona-Krise gewesen - und wurde wegen ebendieser Krise abgesagt. Stattdessen musste man auf amtliches Geheiß zu Hause Däumchen drehen. Immerhin blieb dabei genug Zeit, um die eigene Wohnung endlich bis in den letzten staubigen Winkel zu erkunden oder ein so antiquiertes Medium wie das Fernsehen wiederzuentdecken, auch wenn das beliebte Stilmittel der Videoschaltung mit permanenten Bild-und Tonausfällen auf Dauer einigermaßen ermüdend wirkte.

Die Welt, wie wir sie kannten, ist aus den Fugen geraten.

Am 25. Februar wurden die ersten Covid-19-Krankheitsfälle aus Innsbruck gemeldet, Mitte März alle Tiroler Gemeinden und das Skigebiet Arlberg unter Quarantäne gestellt. Am 16. März trat mit der Schließung von Kindergärten, Schulen, Universitäten sowie weiter Teile des Einzelhandels und der Gastronomie der bundesweite Lockdown in Kraft. Das ist nun 50 Tage her, und obwohl der öffentliche Betrieb Schritt für Schritt wieder "hochgefahren" wird, wie es im epidemiologischen Neusprech heißt, kann von einem Ende des Ausnahmezustands noch lange keine Rede sein.

Die Welt, wie wir sie kannten, ist aus den Fugen geraten. Sie wurde durch ein neu- und ausgesprochen unartiges Virus, über das wir nach wie vor bestürzend wenig wissen, auf den Kopf gestellt und kämpft verzweifelt um ihr Gleichgewicht. Erstaunlicherweise hat die durchdigitalisierte Realität des 21. Jahrhunderts der Coronabedrohung nur ein denkbar primitives Instrumentarium entgegenzusetzen. Gesichtsmasken, die in unseren Breitengraden bisher als drollige Fremdkörper asiatischer Provenienz galten, prägen das Straßenbild mittlerweile. Abstand halten lautet das zentrale staatsbürgerliche Gebot der Stunde: Man schützt sich, indem man auf Distanz geht. Streng genommen, sagen Experten, schützt man damit eigentlich nur die anderen, und wer die Menschen kennt, weiß, dass ihnen im Zweifelsfall vor allem am eigenen Wohlergehen gelegen ist. Schau auf dich? Meinetwegen - ich schau auf mich!

Die amtlich verordneten Maßnahmen sind äußerst rigoros und verlangen der Gemeinschaft einen schmerzhaft hohen Preis ab - neben der Beschneidung individueller Freiheiten auch und nicht weniger als die unmittelbare Gefährdung der Existenzgrundlage. "Ist es das wert?", fragen viele immer lauter. Muss man wirklich den ganzen Laden dichtmachen, nur um ein paar Risikogruppen zu schonen? Sind die drakonischen Schutzvorkehrungen nicht vollkommen überzogen, angesichts der vergleichsweise überschaubaren Zahl von Infizierten und Toten? "Sie ist nur deshalb so niedrig, weil wir frühzeitig entschiedene Maßnahmen ergriffen haben!", erwidert die Regierung. Aus dieser Argumentationsspirale gibt es kein Entkommen - jedenfalls nicht, solange die Pandemie alle dazu zwingt, "auf Sicht zu fahren", wie ausgerechnet ein BMW-Vorstandsmitglied schon Anfang März sinnfällig formulierte.

Auf die Gesundheits- folgt mit unbarmherziger Wucht eine Wirtschaftskrise, die schon deshalb die schlimmste seit Menschengedenken werden muss, weil alle fest daran glauben.

Trotz aller Widrigkeiten und Zumutungen legte die Bevölkerung in den ersten Wochen des Ausnahmezustands eine fast schon gespenstische Disziplin an den Tag, die nur als Symptom einer akuten Schockstarre zu erklären ist. Der wohl stärkste Wirkungstreffer gelang dem Coronavirus damit, auf Anhieb so viel Angst und Schrecken zu verbreiten, dass alles andere lächerlich nachrangig erschien, eine Zeit lang zumindest. Doch nach und nach weicht die Benommenheit einer Beklommenheit: Was, wenn der Alptraum mit der Lockerung des Shutdowns nicht zu Ende ist, sondern nahtlos in das nächste Horrorszenario mündet? Die Zeichen dafür stehen verdammt gut. Auf die Gesundheits- folgt mit unbarmherziger Wucht eine Wirtschaftskrise, die schon deshalb die schlimmste seit Menschengedenken werden muss, weil alle fest daran glauben. Deren Dauer und Ausmaß sind vorerst noch Gegenstand mehr oder weniger qualifizierter Spekulationen, die jedoch eines gemeinsam haben: Sie fallen allesamt mehr oder weniger verheerend aus.

Eine strahlende Krisengewinnerin immerhin gibt es: die Politik. Sie hat gleichsam über Nacht einen massiven Bedeutungsschub erfahren und das Primat des Handelns, das lange von der marktwirtschaftlichen Doktrin bestimmt wurde, auf fulminante Weise zurückerobert. Selbst in liberal verfassten Gesellschaften verfügt die Politik derzeit über eine beispiellose Allmacht, die sie angesichts der herrschenden Gefährdungslage nicht umständlich rechtfertigen muss und deshalb vielleicht auch nicht so leichtherzig wieder abtreten wird. Nie war der Aktionsradius von Regierungen rund um den Globus weiter gefasst. Ihr Wort ist unverzüglich Gesetz, denn im Ausnahmezustand bleibt keine Zeit für langatmige Diskussionen. Widerspruch wird mit dem Allzweckargument der "Alternativlosigkeit" kurzerhand ausgehebelt.

Wie unterschiedlich sich die neuen Machtverhältnisse entfalten können, zeigt eine flüchtige Rundschau der amtierenden Staats- und Regierungschefs. Das Spektrum reicht von hilflos schlingernden Autokraten (Putin, Bolsonaro) und erratischen Kollateralopfern (Johnson) über besonnene Hardliner (Sánchez, Conte), zupackende Pathetiker (Macron) oder fürsorglich-strenge Landesmütter (Merkel) bis zu - erraten! - Donald Trump, der spätestens seit seiner ernsthaft vorgetragenen Schnapsidee, gegen Sars-CoV-2 Desinfektionsmittel zu injizieren, nicht nur als pathologischer Narziss und schamloser Lügner, sondern auch als "weltbekannter Idiot" (so der amerikanische Late-Night-Star Seth Meyers) gelten darf.

Das Coronavirus werden wir früher oder später in den Griff bekommen - das Corona-Trauma so bald wohl nicht.

Sebastian Kurz wiederum bezieht auf der Skala der politischen Spielraumgestaltung eine Sonderposition. Das Verhältnis des Kanzlers zur demokratischen Hochkultur erschien schon einigermaßen getrübt, als er gleich zu Beginn seiner ersten Amtszeit eine strenge Message Control einführte und damit das Ideal kommunikativer Transparenz subtil, aber konsequent unterlief. In der Corona-Krise ließ er sich, beflügelt von der enthemmenden Dramatik der Ereignisse, zu zwei höchst verfänglichen Aussagen hinreißen. Ob die von der Regierung verhängten Beschränkungen alle "auf Punkt und Beistrich in Ordnung" gewesen seien "oder nicht", werde "am Ende des Tages der VfGH entscheiden, aber wahrscheinlich zu einem Zeitpunkt, wo die Maßnahmen gar nicht mehr in Kraft sind". Dieses zumindest fragwürdige Verständnis von Rechtsstaatlichkeit bekräftigte Kurz mit einem weiteren Statement: "Es ist jetzt wichtig, in eine Phase der neuen Normalität überzugehen -eine Phase, in der wir uns weiterhin einschränken, aber ein halbwegs normales Wirtschaftsleben fortgesetzt werden kann." Darf man die anhaltende Aussetzung fundamentaler bürgerlicher Freiheiten als Teil irgendeiner demokratischen Normalität auch nur in Betracht ziehen? Kurz ist, wie sich mittlerweile herumgesprochen hat, alles andere als ein leidenschaftlicher Dialektiker und dem produktiven Wechselspiel zwischen These und Antithese eher abgeneigt, was ihm in der gegenwärtigen Situation durchaus entgegenkommt und mit triumphalen Umfrageergebnissen belohnt wird. Doch Überflieger sind vor Hybris bekanntlich nicht gefeit, und ein Bundeskanzler mit Zustimmungswerten bis zu 74 Prozent gehört definitiv zur Risikogruppe.

Kurz hat vorerst wenig zu befürchten, denn Europas Krisenbevollmächtigte genießen im Unterschied zu ihren Pendants im Rest der Welt ein unschätzbares Privileg: Sollten am Ende alle Stricke reißen, können sie sich nach Herzenslust an der EU schadlos halten. Tatsächlich spielt die Europäische Union in der Corona-Krise eine beklagenswerte Nebenrolle, was vor allem rechtspopulistischen Zündlern höchst gelegen kommt. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán etwa lässt seit Jahren keine Gelegenheit aus, die Institution, von der sein Land seit dem Beitritt 2004 überproportional profitiert hat, systematisch zu verunglimpfen. Warum sollte er ausgerechnet jetzt damit aufhören? Die EU kann in Wahrheit immer nur so stark sein, wie seine Mitgliedsländer es zulassen, doch die Corona-Pandemie hat, mehr noch als die Flüchtlingskrise 2015, zu einer massiven Verhärtung des nationalstaatlichen Denkens geführt. Zum Prügelknaben taugt der "zahnlose" europäische Tiger aber allemal.

Das Coronavirus werden wir früher oder später in den Griff bekommen - das Corona-Trauma so bald wohl nicht. Die Weltgemeinschaft steht vor einer großen Depression, nicht nur auf ökonomischer, sondern auch auf psychologischer Ebene. Leider kann man gegen die allgegenwärtige Angst vor der nächsten Pandemie keine milliardenschweren Hilfspakete schnüren. Sie wird uns für lange Zeit quälen, und dass wir daneben noch ganz andere Sorgen haben, ist ein ziemlich schwacher Trost.

SVEN GÄCHTER Krankheitsbedingt verbrachte er schon vor dem 16. März einige Wochen zu Hause. Mittlerweile hat er sich an die Home-Office-Routine halbwegs gewöhnt - wobei noch so viele Telefon und Zoom-Konferenzen einen produktiven Redaktionsbetrieb niemals ersetzen können.

Sven   Gächter

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