Jahresausgabe

Corona geht immer

2022 lernte die österreichische Politik die Krise als Chance (zur parteipolitischen Profilierung) schätzen. Gernot Bauer über eine weltweite Seuche, die in ihrem dritten Jahr zur Wiener Operette wurde.

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In einem Essay in dem Band "Erklär mir Österreich" aus dem Jahr 2000 schreibt der Autor Robert Menasse, dass es zum Wesen einer Krise (damals: Schüssel, Haider und ihre schwarz-blaue Koalition) gehöre, dass sie nicht mit ihrer Lösung beginne. Diese "selbstverständliche Prämisse" löse in Österreich allerdings "helle Überraschung, ja geradezu Hysterie" aus. Dadurch gäbe es immer "zwei Krisen, nämlich die Krise und die Krise ihrer Interpretation".

In der Pandemie verhielt es sich genauso, veranschaulicht an Zitaten zweier ÖVP-Bundeskanzler. Am 30. März 2000 formulierte Sebastian Kurz im ORF-Interview einen Satz, den er nicht mehr loswerden sollte: "Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist." Am 14. Mai 2022 begrüßte Karl Nehammer die Delegierten des ÖVP-Bundesparteitags in der Grazer Helmut-List-Halle mit den nicht minder legendären Worten:

So viele in so einem kleinen Raum heißt auch so viele Viren, aber jetzt kümmert es uns nicht mehr. Schön, dass ihr da seid!

Im Publikum saß auch Sebastian Kurz. Man wüsste gern, was er sich in diesem Moment dachte.

Kurz interpretierte die Krise als Horror, Nehammer machte aus ihr eine Operette. Zwischen dem erklärten Schrecken und seinem ausgerufenen Ende liegen zwei Jahre. Heute weiß man, dass Nehammer letztlich näher an der Realität war als Kurz. Der Horror blieb aus, doch Tausende Opfer gab es. Laut Statistik Austria lag die Übersterblichkeit 2020 bei 10,5 Prozent, 2021 bei 9,1 Prozent. Heuer wird die auf Covid-19 rückführbare Übersterblichkeit bei geschätzt drei Prozent liegen.

So harmlos, wie Nehammer in Graz suggerierte, war das Virus 2022 also auch nicht. Doch dank der Impfung haben wir gelernt, mit Corona zu leben. Die Seuche wurde tatsächlich eine Art Grippewelle. Daher war der heurige Advent auch wieder wie damals: Punschstand, Betriebsweihnachtsfeiern, Singen unterm Baum ohne Angst vor Aerosolen. Wer erinnert sich noch an November und Dezember 2021? Vor den Christkindlmärkten kontrollierten Sicherheitsleute den grünen Pass. Am Arbeitsplatz galt Maskenpflicht. Erlaubt waren nur Treffen im erweiterten Familienkreis. Und vom 22. November bis zum 11. Dezember galt ein landesweiter Lockdown mit Ausgangssperren sowie geschlossenen Wirtshäusern und Geschäften.

Im dritten Jahr der Pandemie holte sich die Politik die Deutungshoheit von den Epidemiologen, Virologen und Komplexitätsforschern zurück. Diese leisteten in den Jahren zuvor einen wertvollen Beitrag, indem sie das öffentliche Bewusstsein für die Gefahren des Virus schärften, oft um den Preis von Anfeindungen. Heuer dienten sie nur noch als Berater, die sie im Selbstverständnis wohl immer waren. Symbolisch wurde die Wende in der Corona-Politik im Juli vollzogen, als der Nationalrat das nie wirksam gewordene Covid-19-Impfpflichtgesetz nur fünf Monate nach dessen Inkrafttreten wieder aufhob. Es war ein Phantomgesetz, das die Landeshauptleute vor einem Jahr dem damaligen Kanzler Alexander Schallenberg regelrecht aufgenötigt hatten.

2022 war aber auch das Jahr, in dem die Politik das Virus endgültig als Mittel zur Eigenvermarktung schätzen lernte. Vorgezeigt hatte das bereits Sebastian Kurz. Im März 2021 behauptete er, einen riesigen Impfstoff-"Basar" in der EU aufgedeckt zu haben. In Brüssel war die Verärgerung groß. Dazu rühmte sich Kurz, mit Israel Corona-Impfstoffe der zweiten Generation produzieren zu wollen. Es blieb bei der Ankündigung. Und regelmäßig kritisierten Kurz und sein damaliger Innenminister Nehammer medienwirksam das Corona-Management der Stadt Wien.

Allerdings: Auch die Wiener SPÖ weiß das Virus politisch zu verwerten. Zur Erinnerung: Zu Beginn der Pandemie richtete das Rathaus seine Politik nach dem Grundsatz "Seuche? Welche Seuche?" aus. Als Ärzte erstmals öffentlich warnten, hielt ihnen der zuständige SPÖ-Gesundheitsstadtrat Peter Hacker vor, "hysterisch" zu sein. Doch bald rief Bürgermeister Michael Ludwig den "Wiener Weg" aus und verkaufte die strengsten Corona-Maßnahmen Österreichs als Alleinstellungsmerkmal. Dem Bund warf er wiederholt Sorglosigkeit vor. Nun kann er nicht mehr zurück. Die Maskenpflicht in Wiener Öffis bleibt, ihre Aufhebung wäre für Ludwig ein Gesichtsverlust.
 

Rief den "Wiener Weg" aus: Bürgermeister Michael Ludwig

Weniger rigide war der Bürgermeister bei Großveranstaltungen in eigener Sache. Der 1.-Mai-Aufmarsch am Rathausplatz fand wieder fast ohne Einschränkungen statt - und auch das von der Wiener SPÖ veranstaltete Donauinselfest im Juni, obwohl zu dieser Zeit die Infektionszahlen in die Höhe schossen. Der neue grüne Gesundheitsminister Johannes Rauch aus Vorarlberg reagierte darauf schon sehr wienerisch, obwohl er erst seit März in der Bundeshauptstadt lebt: "Also g'scheit ist es wahrscheinlich nicht, aber zu verhindern ist es auch nicht."

Mit der Impfgegner-Partei MFG ("Menschen - Freiheit - Grundrechte") ging es 2022 nach steilem Anstieg wieder bergab. 2021 war ihr mit 6,2 Prozent der Einzug in den oberösterreichischen Landtag gelungen. Im heurigen September scheiterte sie bei den Tiroler Landtagswahlen mit 2,8 Prozent. Bei der Wahl in Niederösterreich am 29. Jänner 2023 wird sie es ebenfalls nicht in den Landtag schaffen. Mit der Beendigung der Corona-Maßnahmen kam der Partei die Geschäftsgrundlage abhanden.

Am absehbaren Ende ihrer Laufzeit muss man der MFG zumindest zugestehen, in der Pandemie authentisch gewesen zu sein. Ihre Anliegen mögen hanebüchen sein, doch ihren Funktionären ist abzunehmen, dass es ihnen um die Sache geht. Im Gegensatz zu den Freiheitlichen: In der Nutzung der Pandemie für parteipolitische Propaganda waren FPÖ-Obmann Herbert Kickl und Parteifreunde hemmungslos. Über Bundespräsident Alexander Van der Bellen sagte Kickl, dieser habe sich in der Corona-Politik "in die Reihen der Folterknechte" gestellt. Und der Regierung warf er vor, es sei ihr "in keiner Sekunde um die Gesundheit der Bevölkerung gegangen", sondern um die "Machtgeilheit und Geldgier" von "politischen Eliten". Am Anfang der Pandemie hatte Kickl der Koalition noch vorgeworfen, zu wenig zur Corona-Bekämpfung zu tun.

Gesundheitsminister Rauch fiel dagegen durch seinen gesunden Pragmatismus auf. Man sei dabei, "vom Katastrophenmodus" in eine "Phase des Lebens mit dem Virus" überzugehen. Nur im April wurde er auf dem Kurznachrichtendienst Twitter fuchtig: "Die einen schimpfen mich , fahrlässigen Durchseucher', die anderen ,Zwangsvollstrecker sinnloser Maßnahmen'. Ich bewege mich auf dem Fundament von Expertise (Wissenschaftlichkeit) und Verhältnismäßigkeit (Verfassungskonformität)." Die Kritik des Rechnungshofs am Corona-Management der Regierung seit 2000 ist Rauch - weil zu kurz im Amt - nicht anzulasten. In einem Bericht vom heurigen Juni schrieben die Prüfer: "Der Bund hatte die im Pandemiefall notwendigen organisatorischen Strukturen und personellen Grundvoraussetzungen nicht sichergestellt."

Der Autor und Philosoph Franz Schuh zieht im Lesebuch "Vom Guten, Wahren und Schlechten" die Treffsicherheit der Corona-Maßnahmen nicht grundsätzlich in Zweifel, hält aber "das eindringliche Rekurrieren auf absolute Richtigkeit" für problematisch: "Selbst wenn alle Entscheidungen dieser Regierung richtig sind, wird der Totalitarismus, der mit der Propagierung dieser Richtigkeit zusammenhängt, für zukünftige demokratische Verhältnisse ein Problem." Was bei der Pandemie-Bekämpfung richtig oder falsch war, wird noch lange nicht abschließend beurteilbar sein. "Totalitaristisch" war aber teils auch die Ablehnung der schwarz-grünen Krisenpolitik durch die Opposition. Man kann den Umgang der österreichischen Politik mit der Corona-Krise auch als einen dreijährigen Streit der Parteien ums Rechthaben interpretieren. Wenn es einmal keine Gelegenheit zur Auseinandersetzung gab - Corona ging immer. Auch 2023 wird das wohl so bleiben. Um das vorauszusehen, muss man kein Komplexitätsforscher sein.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.