Metropole wider Willen

Das rasche Bevölkerungswachstum Wiens sorgt für Konflikte

Stadtplanung. Wien wächst so stark wie keine andere EU-Metropole. Das sorgt für Konflikte

Drucken

Schriftgröße

Ein paar Salathäuptel trotzen im Gemüsebeet noch dem Herbst, die Kinder-Klettergeräte in den schönen Vorgärten sind genauso schmuck wie die Terrassensitzgruppen vor den dreistöckigen Häusern. Keine Frage, hier in der Fasangartensiedlung in Wien-Hietzing lässt es sich leben: Nur 14 Autominuten vom ersten Bezirk entfernt - und trotzdem eine ländliche Grün-Idylle. Schönbrunn mit seinem riesigen Schlosspark ist gleich ums Eck, die Giraffen in der Bundesheer-Kaserne werden die neuen Nachbarn, und der profil-Fotograf schwört Stein und Bein, zwischen den Bäumen und Grasinseln auf dem brachliegenden angrenzenden Grundstück einen Fuchs vorbeiflitzen gesehen zu haben.

Kampf um die eigene Aussicht
Thomas Prantner wohnt hier in der Fasangartensiedlung. Im Hauptberuf ist der 50-Jährige Online-Direktor des ORF und hat seinen Ruf als Machtfaktor der Tatsache zu verdanken, dass er als Verbindungsmann zur FPÖ gilt. Der Mann hat Übung im Strippenziehen. Das kommt ihm in seinem Nebenjob zugute: Prantner ist auch Sprecher einer Bürgerinitiative, die gegen neue Nachbarn in der Siedlung wettert. Um alarmistische Schlagwörter ist er dabei nicht verlegen: Er protestiert er gegen "den Monsterbau", die "Lärm- und Verkehrshölle", "Beton-Glas-Villen" und die "Verschandelung des Bezirks". Auch Vorwände sind ihm recht: Einmal will er "das Naturdenkmal Linde" retten, dann Parkplätze für Schönbrunn-Besucher. Letztlich geht es ihm und seinen Mitstreitern vor allem um eines: die eigene Aussicht, die derzeit aus Bäumen und Wiesen besteht. Naturgemäß würde sie darunter leiden, wenn am Nachbargrundstück 24 Wohnungen gebaut werden.

In der Fasangartensiedlung lässt sich wie unter einem Brennglas der Konflikt besichtigen, der sich derzeit quer durch Wien zieht. Die Stadt, die über Jahrzehnte geschrumpft war, erlebt ihre zweite Gründerzeit. Keine andere Stadt in der EU wächst derzeit so schnell wie Wien, die Bevölkerungszahl steigt pro Jahr um 25.000 Menschen und wird im Jahr 2029 die Zwei-Millionen-Einwohner-Marke überklettern. Anders gerechnet: Binnen zehn Jahren wird sich Wien um die Einwohnerzahl von Graz, der immerhin zweitgrößten Stadt Österreichs, vergrößern. Dafür braucht es viele tausend neue Wohnungen - aber viele Wiener wehren sich gegen zusätzliche Bewohner über oder neben ihnen. Die Spielregeln für das wachsende Wien, das stets eine Metropole wider Willen war, werden gerade neu definiert - und viele Konflikte wiederholen sich, die schon vor 100 Jahren, in der letzten Boomphase, ausgefochten wurden.

"50 bis 100" Bürgerinitiativen gegen Bauprojekte
Wie viele Bürgerinitiativen derzeit quer durch Wien aus dem Boden schießen und sich gegen Bauprojekte wehren, weiß niemand so genau. Selbst Heinz Berger, der Initiator der Online-Plattform "Bürgerprotest", kann ihre Zahl nur mit überaus vagen "50 bis 100" beziffern. Manche sorgen sich um Ziesel oder andere possierliche Tiere, die durch Wohnbauten gefährdet seien, andere um Bäume.

Es ist ein wenig eine Ironie der Geschichte, dass mit Christoph Chorherr ausgerechnet ein Grün-Politiker das Prinzip Beton statt Baum verteidigt: "Die Umweltverträglichkeitsprüfung ist eines der Haupthindernisse bei der Stadterweiterung. Bei manchen Bürgerinitiativen werden öffentliche Interessen vorgeschoben, um ausschließlich individuelle Anliegen zu vertreten." So viel zum Bürgerprotest im Allgemeinen, und zu Thomas Prantners Initiative im Besonderen weiß der Grüne Planungssprecher Chorherr zu sagen: "Ich stehe derzeit bei vielen Bürgerinitiativen in Favoriten oder in der Donaustadt, wo etliche 100 Wohnungen gebaut werden. Da ist es für mich undenkbar, 25 Wohnungen zu verhindern, nur weil jemand hervorragend vernetzt ist und stark interveniert." Noch dazu ist Hietzing (neben der Innenstadt) ohnehin einer der beiden Wiener Ausnahmebezirke, die sogar Einwohner verlieren - alle anderen 21 werden kräftig wachsen.

Drei Varianten für zusätzlichen Wohnraum
Unendlich viele Varianten für zusätzlichen Wohnraum gibt es nicht. Die konfliktfreieste Methode ist Miniwachstum nach oben: der Dachbodenausbau. Wer an gefühlten hunderten "hier entstehen Dachterrassen-Wohnungen"-Schildern vorbeifährt, wird es kaum glauben können - aber bis heute warten 20.000 Dachböden darauf, von Mülllagerstätten zu Wohnungen umgebaut zu werden. Problematischer ist Wachstum am Stadtrand: Auch das passiert - allein in Aspern entstehen Wohnungen für 20.000 Menschen -, aber mit hingeklotzten Großprojekten in der Peripherie machte Wien in der Vergangenheit leidvolle Erfahrungen. Riesenschlafburgen wie die Großfeldsiedlung gelten als Exempel, wie man nicht bauen soll. Immerhin, nach Aspern führt eine U-Bahn. Aber Verkehrswege erst bauen zu müssen, geht ins Geld. Bleibt als dritte Variante die sogenannte Verdichtung - also in den bestehenden Bezirken mehr Menschen auf gleich viel Raum unterzubringen.

Da wäre einiges an Luft - vor allem nach oben. "In Wien gilt bis heute jedes Gebäude über 26 Meter als Hochhaus. Das ist natürlich lächerlich", sagt Volker Dienst, Architekt und Sprecher der Plattform Baukultur. Denn die Klassifizierung als "Hochhaus" bedeutet auch strenge technische Auflagen, deren Erfüllung ins Geld geht. Dabei wären ein paar zusätzliche Stockwerke teils die klügere Lösung als Neubauten auf den wenigen kargen Grünflächen.

Aber Wien hatte zur Vertikalen stets ein zutiefst gespaltenes Verhältnis. Nur hier ging im Jahr 1931 das "Hochhaus" in der Herrengasse im ersten Bezirk als erstes Hochhaus der Stadt durch - maß es doch läppische 50 Meter. Zum Vergleich: Im selben Jahr wurde in New York das Empire State Building errichtet - mit 443 Metern ein echter Wolkenkratzer.

"Wien ist die größte Kleinstadt der Welt"
Für den Stadtforscher Peter Payer ist das ein Beispiel dafür, dass Wien im Grunde stets eine "Metropole wider Willen" war - oder, anders ausgedrückt: "Wien ist die größte Kleinstadt der Welt." Viele Etappen der Urbanisierung gingen in Wien zögerlicher vonstatten als anderswo: In London etwa fuhren die ersten U-Bahnen im Jahr 1863, in Budapest immerhin 1896 und 1900 auch in Paris. Nur in der Kaiserstadt Wien blieb die U-Bahn ewig im Diskussionsstadium stecken. Erst im Jahr 1976 wurde die erste U-Bahn-Strecke eröffnet.

Wenn Payer das Jahrhundertwende-Wien mit der heutigen Boom-Stadt Wien vergleicht, muss er manchmal schmunzeln, wie sehr sich manche Konflikte wiederholen. Das Zusammenleben auf engerem Raum wurde schon damals erregt ausverhandelt, nicht umsonst erschien im Jahr 1913 das Handbuch "Großstadt-Benehmen", das etwa mit erhobenem Zeigefinger nahelegte: "Jedermann hat sich und seinen Nebenmenschen zuliebe alles zu vermeiden, was das in der Großstadt ohnehin hochgespannte Nervensystem überreizen könnte."

Pikantes Thema Verkehr
Das Lieblingsstreitthema war damals wie heute der Verkehr. Wobei vor einem Jahrhundert der Lärmpegel wesentlich höher war, weil es keinerlei Verkehrsregeln gab. Also versuchten vom Fußgänger bis zum Fahrer alle durch möglichst laute Geräusche auf sich aufmerksam zu machen: Durch Hupen (Autos), Dauerklingeln (Tramway und Fahrräder), Peitschenknallen (Pferdedroschken) und Schreien (alle).

"Die Frage der Mobilität ist bis heute eine der emotionalsten Fragen überhaupt in der Stadtplanung", seufzt Thomas Madreiter, der Planungsdirektor der Stadt. Daher bemüht er sich, Autofahrer nicht zu vergrätzen und formuliert vorsichtige Sätze wie "Fußgänger, Radfahrer und Öffi-Benutzer sind zu forcierende Segmente in unserem Mobilitätskonzept" oder "für jüngere Stadtbewohner hat das eigene Auto einen wesentlich geringeren Stellenwert als für die ältere Generation".

Dass sich in einer wachsenden Stadt ein Gratisparkplatz vor dem Haus für jeden nicht ausgehen wird, dass U-Bahnen oder Straßenbahnen mehr Menschen transportieren können als Privat-Pkws - das kann sich noch jeder Laie ausrechnen. Madreiter hat sich, wenn er über das Wien des Jahres 2050 nachdenkt, aber auch mit weniger naheliegenden Fragen zu beschäftigten. Etwa jener: "Wie kann ich die Stadt belüften, für Frischluftschneisen und Abkühlung sorgen?" Denn: Urbane Gebiete sind vom Klimawandel besonders betroffen, die Zahl der Hitzetage in Wien steigt, jene der kühlen Nächte sinkt. Über Kühlideen grübeln Madreiters Experten noch.

Luegers Rechenfehler
Prinzipiell hat der Wiener Planungsdirektor aber ein paradoxes Riesenglück: Viele Prognosen der Vergangenheit lagen meilenweit daneben. So war Bürgermeister Karl Lueger um die Jahrhundertwende aufgrund von Expertenberechnungen felsenfest davon überzeugt, dass die Hauptstadt des Kaiserreiches im Jahr 1950 vier Millionen Einwohner haben werde. Auf diese Bevölkerungszahl waren das weitverzweigte Kanalnetz, das vor allem zur Vermeidung der damals verbreiteten Cholera angelegt wurde, und die zweite Hochquellwasserleitung, für die stilvoll am 11. August 1900, dem 70. Geburtstag von Kaiser Franz Joseph, der Grundstein gelegt wurde, dimensioniert. Sie transportiert bis heute Wasser aus der Steiermark nach Wien. Die damaligen Kalkulationen über den Wasserverbrauch waren mindestens genauso grundfalsch wie die Bevölkerungsprognosen: Damals wurde kompliziert kalkuliert, dass jeder Einwohner 0,6 Eimer pro Tag verbraucht.

Das entspricht etwa 34 Liter Wasser - eine Menge, die der durchschnittliche Wiener heute täglich die Toilette hinunterspült. Tatsächlich konsumiert ein statistischer Städter 162 Liter Wasser pro Tag. Aber Hochquellwasserleitung und Kanalnetz, die damals für erwartete vier Millionen Einwohner errichtet wurden, werden für eine Zwei-Millionen-Stadt reichen.

Seit 2004 kein Bau von Gemeindewohnungen
So viele Einwohner hatte Wien schon einmal, im Jahr 1910, als es zur siebtgrößten Stadt der Welt aufgestiegen war. Die damalige Gründerzeit glänzte allerdings bei Weitem nicht für alle: Die Wohnungssituation war katastrophal, tausende Obdachlose hausten in Kanälen, 90.000 sogenannte "Bettgeher" teilten ihre Schlafstatt im Schichtbetrieb, Großstadtseuchen wie die Tuberkulose hießen nicht ohne Grund "Wiener Krankheit". Die desaströsen Zustände von damals sind tief im kollektiven Gedächtnis verankert, auch deshalb gilt das Leben in einer Millionenstadt bis heute manchen als Gräuel. Von der seinerzeitigen Wohnungsnot ist das heutige Wien weit entfernt. Aber auch jetzt klettern die Immobilienpreise stetig nach oben - und die Grundstückspreise mit ihnen. Schon jetzt ist Baugrund dermaßen teuer, dass sozialer Wohnbau unmöglich wird. Gemeindewohnungen werden seit 2004 keine mehr gebaut, auch der geförderte Wohnbau stagniert. "Wir müssen intensiv darüber nachdenken, ob bei Grund und Boden die uneingeschränkte Marktwirtschaft gelten soll", sagt der Grüne Planungssprecher Chorherr. Zusatz: "In der nächsten Legislaturperiode."

Vor der Wahl sollen diese heiklen Fragen - wie sehr darf die Stadt Grundstückspreise bestimmen? Darf sie enteignen? Und wann? Ist das Planwirtschaft? - tabu sein. Wohl aus gutem Grund. Denn gegen die Konflikte, die damit herandräuen, sind die Ziesel und eine beeinträchtigte Aussicht nachgerade Kinkerlitzchen.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin