Die  Steuerungsgruppen der Koalitionsverhandlungen von ÖVP und Grünen.

Der gemeinsame Wertekanon von ÖVP und Grünen

Was die Türkisen Schöpfung, Bewahrung und Nächstenliebe nennen, ist für die Grünen Natur, Nachhaltigkeit und Solidarität. Gernot Bauer über den gemeinsamen Wertekanon der Koalitionsverhandler.

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Diese Woche wollen ÖVP-Chef Sebastian Kurz und Grünen-Sprecher Werner Kogler die weitere Vorgehensweise bei den Koalitionsverhandlungen festlegen. Bis dahin werden die Untergruppen erste Berichte abgegeben haben. Als einer der wenigen ließ sich Rudi Anschober, grüner Landesrat aus Oberösterreich, zu einem öffentlichen Kommentar hinreißen. Auch wenn in seinem Bereich (Europa, Integration, Migration, Sicherheit) eine „gute Gesprächskultur“ herrsche, sei man teilweise „beachtlich weit auseinander“. Ein baldiger Abschluss wäre ein „kleines Weihnachtswunder“.

Erfolgreiche Koalitionsverhandlungen verlaufen auf drei Ebenen. Ganz unten muss man sich inhaltlich einigen. Dann verlagert sich alles auf das Persönliche. Und im Überbau sollte man Gemeinsamkeiten finden. Etwas mehr als die Erwartung einer Weihnachtsbescherung sollte es dann doch sein. Und siehe da: Analysiert man die Ideengeschichten von Türkisen und Grünen, ist ein gemeinsamer Wertekanon der Koalitionsverhandler zu erkennen.

Sebastian Kurz verwendet in jüngster Zeit gern den Begriff „Schöpfung“. Zufall? Eher intelligentes Sprachdesign. Kurz will den Seinen und den möglichen Partnern eine Schnittmenge aufzeigen. Die Schöpfung macht den größten gemeinsamen Bestand von ÖVP und Grünen aus. Die Ökos nennen sie nur anders, nämlich „Natur“ oder „Umwelt“ und vermuten dahinter keinen göttlichen Plan. Die Schöpfung muss aus christlicher Sicht „bewahrt“ werden, die Umwelt aus grüner Sicht „geschützt“.

Naturschützer und Kirchgänger

Unter den engagiertesten Naturschützern finden sich seit jeher wertkonservative Kirchgänger. Im ÖVP-Grundsatzprogramm kommt der Begriff „Schöpfung“ mehrfach vor. Zum Beispiel so: „Der bewusste und respektvolle Umgang mit der Natur ist nicht nur Ausdruck unserer Verantwortung für die Schöpfung, sondern auch unsere Pflicht uns und den nächsten Generationen gegenüber.“ Klingt ziemlich grün. Oder auch: „Im Sinn der Wahrung der Schöpfung ist uns auch der Schutz der Tiere ein Anliegen.“ Tierschutz – grüner geht es nicht. Das grüne Parteiprogramm liest sich ohnehin wie eine Öko-Enzyklika. Und Sebastian Kurz erinnert die Grünen fast wöchentlich daran, dass sie am 29. September vor allem wegen der Klimakrise gewählt wurden.

Für den geistigen Überbau fühlte sich in der ÖVP jahrzehntelang Andreas Khol verantwortlich. Der frühere Nationalratspräsident vereitelte 2006 Wolfgang Schüssels Plan, den parteilosen Karl-Heinz Grasser zum Vizekanzler der ÖVP in der rot-schwarzen Koalition zu machen. Khols Begründung: Der oberste Repräsentant der Volkspartei in der Bundesregierung müsse die drei Grundsätze der christlichen Soziallehre – Solidarität, Subsidiarität, Personalität – kennen. Sebastian Kurz, von dem es parteiintern heißt, er gehe jede zweite Woche in die Kirche, kennt sie. Und Werner Kogler kann damit sicher auch etwas anfangen.

Solidarität, wie sie die christliche Soziallehre und damit auch die ÖVP versteht, sichert allen Menschen eine Erfüllung der Grundbedürfnisse. Privateigentum verpflichtet und steht im Dienste des Gemeinwohls.

Subsidiarität kann man auch als Handlungsanleitung für grüne Bürgerinitiativen verstehen. Die Bürger sollen sich selbst helfen, staatliche Autoritäten nur einspringen, wenn die Schäfchen nicht weiterwissen. Seine Kinder soll man so erziehen lassen, wie man will, ob streng im katholischen Internat oder kuschelig in der Alternativschule.

Das Prinzip der Personalität garantiert dem Menschen Würde, unabhängig von Rasse, Geschlecht oder sozialer Herkunft. Jeder besitzt die Freiheit, nach seiner eigenen Façon glücklich zu werden.

In ihrer Skepsis sind christliche Soziallehre und grüne Dogmatik einander ziemlich ähnlich: Beide lehnen übertriebenen Individualismus, allzu viel Fortschrittsglaube und grenzenloses Wirtschaftswachstum ab. Manchmal sind die Grünen sogar päpstlicher als die Türkisen.

Bürgerliche Wurzeln

Die Geburt der Grünen erfolgte aus bürgerlichem Widerstandsgeist. Ab Mitte der 1970er-Jahre formierten sich in der Stadt Salzburg Initiativen, die gegen die Verbauung von Grünflächen kämpften. Daraus entstand die Bürgerliste, die bei der Gemeinderatswahl 1977 zwei Mandate errang. Eines ging an den Schauspieler Herbert Fux. Bürgerschreck und Bürger in Personalunion – das ging sich bei den Grünen schon damals aus. 1982 erreichte die Bürgerliste bereits knapp 18 Prozent. Getragen und gewählt wurde sie auch von Landesbeamten, Lehrern und Wirtschaftstreibenden, die von der ÖVP abgefallen waren.

In Vorarlberg schaffte der Grüne Kaspanaze Simma 1984 den Einzug in den Landtag. Davor war der Landwirt Mitglied im ÖVP-Bauernbund gewesen.

Vergangenen Montag feierten die schwarz-türkisen Agrarier das 100-jährige Bestehen ihrer Organisation im Wiener Raiffeisenhaus. Ein Hauptthema waren die Koalitionsverhandlungen. Die Bauern gelten als Skeptiker eines Bündnisses mit den Ökos, vor allem wegen der grünen Verbindungen zu Umwelt- und Tierschutzorganisationen. Gemeinsamkeiten gibt es trotzdem. In seiner Festrede forderte Bauernbund-Präsident Georg Strasser ein Ende des Preisdumpings und mehr Solidarität: „Es braucht einen Freihandel, der auf Klimafragen Rücksicht nimmt, damit unsere Bauernfamilien am globalisierten Markt nicht unter die Räder kommen.“ Kaspanaze Simma hätte es nicht schöner formulieren können. Und wo findet sich die Aussage, dass „gerade die kleinräumige österreichische Landwirtschaft mit der Produktion von Qualitätsware Marktchancen zurückgewinnen“ könne? Im türkisen oder im grünen Parteiprogramm? Ähnlich verhält es sich in der gewerblichen Wirtschaft. Der kleine Händler ums Eck hat mittlerweile zwei Schutzpatrone gegen die Konzernmächte: die türkis dominierte Wirtschaftskammer und die grüne Wirtschaft. Allzu viel Wettbewerb und Liberalismus machen beide unruhig.

Türkise und Grüne wollen zudem, dass sich die Bürger in alle Belange einmischen und sich der Politik und der öffentlichen Verwaltung nicht komplett ausliefern. Der Ausbau direktdemokratischer Elemente findet sich im türkisen wie im grünen Parteiprogramm. Die ÖVP propagiert die „Bürgergesellschaft“, bei den Grünen ist es die „Zivilgesellschaft“. Das ÖVP-Konzept des Ehrenamts verträgt sich freilich weniger mit der grünen Parteidoktrin. „Soziale Aufgaben auf engagierte Menschen abzuwälzen“, sei ein „neoliberales Modell“, dessen Zweck allein in der „Entlastung der Öffentlichen Hand“ durch „kostenlose Leistungen“ liege, heißt es dort.

„Haschisch und Weihrauch“ – so betitelte profil einen Artikel über die schwarz-grünen Koalitionsgespräche im Jahr 2003. Damals wurde in der Faschingszeit verhandelt. Ein Karnevalswunder blieb bekanntlich aus.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.