Eiserner Vorhang: Tschechische Geheimakte über Morde
Die Soldaten rückten in einer halbkreisförmigen Gefechtslinie vor. Als der Kommandant "Vorwärts, Attacke!" schrie, stürmten die Männer auf das Wäldchen zu und feuerten aus Maschinengewehren und Pistolen in das Dunkel unter den Bäumen.
Kugelhagel
Was sich wie ein Kriegsbericht liest, ereignete sich mehr als sieben Jahre nach Kriegsende, im Dezember 1952, kaum 45 Autominuten von Wien entfernt. 19 tschechoslowakische Flüchtlinge hatten nahe Petralka, einem Vorort von Bratislava, versucht, den Eisernen Vorhang zu überwinden. Zehn der 19 Flüchtlinge starben im Kugelhagel, drei wurden schwer verletzt. Wie durch ein Wunder gelang einer Sechser-Gruppe die Flucht auf österreichisches Staatsgebiet.
Die 453 Kilometer lange Grenze zwischen Österreich und der damaligen Tschechoslowakei war ein Ort des Schreckens: 129 Flüchtlinge kamen hier zwischen 1948 und 1989 ums Leben - mehr als an der Berliner Mauer. Der letzte Flüchtende ertrank im Juli 1989, als er versuchte, bei Bratislava die Donau zu durchschwimmen.
Todesstreifen
In den grenznahen Dörfern des niederösterreichischen Wald-und Weinviertels vernahm man nachts oft Schüsse, die jenseits von March und Thaya abgefeuert wurden -welche Dramen sich in dem Todesstreifen wirklich abspielten, blieb meist ungeklärt.
Der Zeithistoriker Stefan Karner und sein Team vom Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung konnten nun in Prag, Brünn und Bratislava bislang unzugängliches Aktenmaterial einsehen, in dem der tschechoslowakische Geheimdienst die Vorgänge an der Grenze festgehalten hat. Daraus ist nun ein Buch entstanden.
Anders als in Österreich waren die Kommunisten in der Tschechoslowakei 1946 bei den ersten Wahlen nach Kriegsende mit 38 Prozent stärkste Partei geworden. KP-Chef Klement Gottwald, ein eherner Stalinist, wurde Ministerpräsident einer Allparteienregierung. Im Februar 1948 mobilisierten die Kommunisten die Straße, organisierten einen Generalstreik und setzten den von ihnen unterwanderten Polizeiapparat gegen Funktionäre der anderen Parteien ein. Die Rote Armee stand drohend parat.
Alle Parteien außer der KP wurden verboten, 3000 Menschen verhaftet. Bis 1954 wurden 241 Regimegegner hingerichtet - darunter viele Kommunisten, die den stalinistischen Terror nicht mitmachen wollten.
Schwerer Schock
"Nun hat auch die Tschechoslowakei aufgehört, eine Demokratie zu sein, und ist eine ,Volksdemokratie' geworden," schrieb Oscar Pollak, Chefredakteur der "Arbeiter-Zeitung" resigniert. Für den Sozialdemokraten war das ein schwerer Schock: Die Tschechoslowakei war die letzte Demokratie gewesen, als Mitteleuropa in den 1930er-Jahren im Faschismus versank. Auch er war nach Brünn und später nach London geflüchtet.
Ungarn hatte schon 1948 begonnen, die Grenze abzuriegeln; die CSSR, wie sie nun hieß, richtete ab 1950 eine zwei Kilometer breite Sperrzone ein. Stolperdrähte, Wachhunde und - bis 1964 - ein unter 3000 bis 6000 Volt Spannung stehender Grenzzaun sollten jede Flucht vereiteln.
Der Eiserne Vorhang war für die Wächter noch gefährlicher als für die Flüchtlinge: An der Grenze der Tschechoslowakei zu Bayern und Österreich starben bis 1989 nicht weniger als 648 Soldaten, weil sie in den Stromkreis geraten oder auf Minen getreten waren, viele begingen Selbstmord oder kamen bei Schießereien mit Kameraden ums Leben. Im selben Zeitraum gingen 390 Zivilisten an diesem Abschnitt des Eisernen Vorhangs zu Grunde.
Aus den nun von Karner und seinen Mitarbeitern eingesehenen Akten erschließt sich die Grausamkeit des kommunistischen Regimes vor allem an den Einzelschicksalen.
Die 20-jährige Pragerin Jarmila Jarmila Pospíilová etwa will im Westen ein neues Leben beginnen. Im Oktober 1953 vertraut sie sich einem Fluchthelfer an, der sie über die March nach Österreich bringen soll. Den ersten der drei Stacheldrahtzäune haben die beiden im dichten Nebel bereits überwunden, der stromführende Draht ist durchtrennt, als Pospíilová an einer Spitze hängenbleibt und der Zaun klappert. Unglücklicherweise ist eine Patrouille in der Gegend. Der Kommandant feuert mit seiner Maschinenpistole in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Jarmila Pospíilová wird tödlich getroffen, der Schlepper verhaftet und später zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Im offiziellen Bericht heißt es, "die Agentin Pospíilová" habe eine "deutsche Maschinenpistole" bei sich gehabt - eine glatte Lüge.
Am Eisernen Vorhang erschossene Flüchtlinge wurden auf einem Friedhof des Bezirks bestattet, das Grab wurde sofort eingeebnet und nicht gekennzeichnet. Selbst die Angehörigen erfuhren nie, wo die Opfer beigesetzt waren. Dem Vater von Jarmila Pospíilová wurde 1955 wenigstens mitgeteilt, auf welchem Friedhof seine Tochter ihre letzte Ruhe fand.
Im August 1950 versuchten drei Studenten bei Nikolsburg/Mikulov die Flucht. Ihnen war wegen mangelnder "ideologischer Standfestigkeit" das Studium verwehrt worden. Auch sie wollten mit Hilfe eines Schleppers die Grenze überqueren, der jedoch in Wahrheit ein Spitzel des Regimes war. Als sich die drei jungen Männer der Grenze näherten, lauerten die Soldaten schon im Gebüsch. Gleichzeitig mit dem Ruf "Stoj!" eröffneten sie das Feuer. Zwei der Studenten waren sofort tot, einer starb ein Jahr später an den Folgen der schweren Verletzungen. Wie aus den Akten hervorgeht, hatte man den Soldaten gesagt, die Flüchtlinge seien bewaffnet, weshalb sie rasch schießen sollten. Einige der Todessschützen, junge Wehrpflichtige, waren schwer geschockt, als sie bei den Toten nur Taschenmesser fanden. Sie wurden sofort vom Grenzdienst abgezogen.
Hatten es Flüchtende geschafft, den Grenzverhau zu überwinden, waren sie noch lange nicht in Sicherheit: Mühl-, Wald-und Weinviertel waren bis 1955 sowjetische Besatzungszone, die Kommandantur ordnete die sofortige Übergabe von Flüchtlingen an.
Bei Litschau überquerte das Ehepaar Kouba - er Automechaniker, sie Lehrerin - kurz vor Weihnachten 1949 die noch nicht vollständig befestigte Grenze. Sie hatten in der Nähe ein Wochenendhaus und waren ortskundig. 200 Meter hinter der Demarkationslinie warteten die österreichischen Zöllner. Die Koubas wurden wegen "Passvergehens" zwölf Tage in Haft genommen, dann wieder in die Tschechoslowakei überstellt und dort zu einem halben Jahr Haft verurteilt. Sie hatten Glück: Wenig später wurde wegen der anschwellenden Flüchtlingswelle das Strafmaß drastisch verschärft. Illegaler Grenzübertritt galt nun als Hochverrat, der mit der Todesstrafe geahndet werden konnte.
Die vom Karner-Team gesichteten Akten beziehensich jedoch nicht nur auf Flüchtlinge, sondern auch auf Agententätigkeit in Österreich. Dabei ging es mitunter zu wie in einem Film. Der slowakische Nationalist Josef Vicen etwa betrieb mit Hilfe des US-Geheimdienstes CIC eine antikommunistische Radiostation in Ried im Innkreis, die große Teile Mährens und der Slowakei erreichte. Nach dem Abzug der Besatzungsmächte musste der Sender 1955 seinen Betrieb einstellen. Vicen, er wohnte in der Alser Straße 32 in Wien, war nun dem Zugriff des CSSR-Geheimdienstes schutzlos ausgeliefert. Er schlug im Mai 1957 zu. Ein Spitzel lockte Vicen in ein Wirtshaus in Floridsdorf, wo man ihm K.-o.-Tropfen in den Cognac mischte. Der Slowake wachte im Kofferraum eines Autos auf, das längst die Grenze überquert hatte. Er wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt und kam 1968 während des Prager Frühlings frei.
Manche Dramen klärten sich erst in jüngster Vergangenheit auf. Im August 1956 fuhren die jungen Familienväter Walter Wawra und Karl Benedikt bei Rabensburg im Bezirk Mistelbach spätabends zur nahen Thaya, um zu fischen. Auf einer Flussinsel legten sie ihre Wurfnetze aus. Tschechische Grenzsoldaten hielten die Fischer für Flüchtlinge und eröffneten das Feuer. Die österreichische Gendarmerie fand nur das Motorrad der beiden, die Leichen hatten die "Grenzschützer" beseitigt. Alle Anfragen der verzweifelten Angehörigen blieben unbeantwortet. 2009 erzählte der österreichische Zöllner Franz Huber seinem tschechischen Kollegen Milan Vojta die Geschichte vom mysteriösen Verschwinden der beiden Österreicher. Vojta ging der Sache nach und fand heraus, dass Wawra und Benedikt zehn Kilometer von ihrer Heimatgemeinde entfernt in nicht markierten Gräbern am Friedhof von Břeclav/Lundenburg bestattet worden waren.
Am Ort ihres Todes steht seit Kurzem ein Kreuz.
Als ein Vorhang "eisern" wurde
Es ist einer der Schreckensbegriffe des 20. Jahrhunderts: "Eiserner Vorhang" wurde die mit Minenfeldern, Hochspannungsfallen und Stacheldrahtverhauen gesicherte Grenze zwischen dem freien Westen und dem kommunistischen Osten Europas genannt. Wie zum Hohn erklärten die KP-Machthaber, die Grenzbefestigungen dienten der Abwehr von Spionen und Konterrevolutionären, die den Aufbau des Sozialismus hintertreiben wollten. Der Begriff wird dem britischen Premier Winston Churchill zugeschrieben, der ihn erstmals 1946 in einem Vortrag an der Universität von Missouri verwendete. Tatsächlich sprach aber der russische Autor Wassili Rosanow schon 1918 von einem "eisernen Vorhang", der vor seinem Land niedergegangen sei. Im Februar 1945 warnte NS-Propagandaminister Josef Goebbels vor einem solchen, sollte Deutschland den Krieg verlieren.
Stefan Karner: "Halt! Tragödien am Eisernen Vorhang. Die Verschlussakten." Ecowin Verlag. 213 S.; 21,90 Euro