Endlich Ehre: Mein Weg aus der Mindestsicherung

Der afghanische Flüchtling Murtaza Tahiri über seinen Weg aus der Mindestsicherung, die vielen seiner Landsleute nun gestrichen werden soll.

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Es muss das blaue Hemd gewesen sein. Ich trage es sonst nur bei Dates. Vor einem Monat habe ich es angezogen, um einen Job zu finden. In einem Kleidermodengeschäft auf der Wiener Mariahilfer Straße habe ich der Filialleiterin meinen Lebenslauf in die Hand gedrückt und dabei ein bisschen mit ihr geflirtet. Seit einem Monat bin ich nun Style-Berater für die Modekette.

Von dem Hemd erzähle ich, weil ich davor monatelang von Geschäft zu Geschäft gewandert bin, die Haare immer gegelt, die Kleidung immer gepflegt. Ohne Erfolg. "Darf ich den Geschäftsführer sprechen? Ich suche Arbeit. Hier ist mein Lebenslauf." An einem einzigen Tag habe ich 50 Lebensläufe verteilt und neue Zettel ausgedruckt. Auf all diese Bewerbungen habe ich nur drei Antworten bekommen. Zara, Spar und Hofer schrieben: "Nicht qualifiziert genug."

Unqualifiziert. Dabei hab ich schon als Kind in einer Schneiderei gearbeitet und später Politikwissenschaften studiert. Neue Sprachen lerne ich schnell. Aber ohne Netzwerk ist es für alle hart, eine Arbeit zu finden - egal ob du als Student aus der Stadt oder Analphabet aus dem Dorf fliehst. Besonders für uns Afghanen. Denn wir haben oft nur subsidiären Schutz, der von Jahr zu Jahr verlängert werden muss. Das unterscheidet uns von Syrern, die sofort richtiges Asyl bekommen. Das Wort "Afghanistan" im Lebenslauf schreckt sicher viele ab. Denn wir haben leider einen schlechten Ruf bekommen. Daran sind auch die Drogendealer am Wiener Praterstern schuld. Ich wundere mich jedes Mal, warum manche dort schon seit Jahren herumstehen in ihrem kriegerischen Army-Look. Für Österreicher ist das vielleicht chic. Aber für junge Burschen, die angeblich vor dem Krieg geflüchtet sind? Wer soll glauben, dass solche Drogendealer Asyl verdienen?

Am Anfang der Flüchtlingswelle fanden uns alle nett, jetzt sind wir alle böse. Beides ist falsch und übertrieben. Denn selbst wenn 2000 oder 5000 Afghanen in Österreich mit Marihuana dealen, bleiben 40.000 übrig, die das nicht tun.

Gleich viel wert bist du in Österreich erst, wenn du Steuern zahlst.

Ich bin noch vor der Flüchtlingswelle aus einem Schlepper-Lkw in Tirol ausgestiegen. Das war Ende 2014. Dann bin ich mit dem Zug weiter nach Traiskirchen gefahren. "How can I help you, Sir?", sagte mich der Security am Eingang des Flüchtlingslagers, und ich dachte mir: "Hier bin ich richtig. In diesem Land ist jeder gleich viel wert." Doch ich lernte in den folgenden Jahren: Gleich viel wert bist du in Österreich erst, wenn du Steuern zahlst. Dann hast du eine Ehre. Und es ist ja wirklich ein Unterschied, ob du für Straßen, Parks und Krankenhäuser, die du benutzt, zahlst oder nicht. Oder für die Polizei. Die würde ich heute viel schneller rufen, wenn mich jemand angreift.

Zum ersten Mal brauchte ich die Mindestsicherung Ende 2015. Ich hatte meinen subsidiären Schutz bekommen. Die Arbeit bei einer Wiener Cateringfirma verlor ich gleich wieder, weil mein Deutsch nicht ausreichte. Die Sprache zu lernen , ist nicht leicht für uns, weil sie im Unterschied zu unserer Sprache keine Melodie hat, an der wir uns anhalten können. So richtig lernte ich die Sprache erst beim Bier vom Fass im Irish Pub mit meinen Freunden von der ÖVP-Gewerkschaftsjugend. Die hab ich über den staatlichen Integrationsverein "Zusammen Österreich" kennengelernt.

Als ich die Mindestsicherung zum ersten Mal auf meinem Konto hatte, dachte ich mir: 840 Euro - wow! Als Asylwerber in einer Unterkunft im steirischen Leoben (die Station nach Traiskirchen) bekam ich nur 150 Euro. Aber wenn du dauerhaft in einem Land wie Österreich leben willst, kommen die Erwartungen automatisch. Und bald sind 840 Euro nicht mehr so wow, vor allem, wenn du mit Österreichern unterwegs bist, die coole Pläne für ihr Leben haben. Es fühlt sich nicht gut an, wenn du nie eine Runde bezahlen kannst.

Auch traditionelle Afghanen, die arbeiten, fragen sich auf unseren Hochzeiten: Hat er seinen Anzug und das Kleid für seine Frau selbst bezahlt? Oder bezahlt er beides von unseren Steuern? Da unterscheiden sich Afghanen nicht so sehr von einer alten Österreicherin, die uns in der U6 mit Skepsis anschaut und sich dasselbe denkt.

Ich finde Druck gut - aber nur mit Perspektive.

Als ich im Sommer 2016 zum ersten Mal für profil schrieb, wurde der Lohn von der Mindestsicherung abgezogen. Das fand ich fair. In meiner ersten Geschichte ging es um die Mindestsicherung. Wir sollten sie nur als Starthilfe für Flüchtlinge sehen und auch so nennen. Und wenn wir uns nicht anstrengen, sollte sie sinken, habe ich argumentiert. Ich finde Druck gut - aber nur mit Perspektive. Sonst macht Druck depressiv, und das sind mittlerweile viele Afghanen geworden.

Nach dem Sommer fand ich eine Arbeit als Übersetzer für ein Projekt an der Universität. Der Job war nur geringfügig , trotzdem hab ich mich von der Mindestsicherung abgemeldet. Wir haben ja bereits gemerkt, dass wir nicht mehr willkommen sind. Und ich wollte nicht mehr der Grund für diesen Hass sein.

Der Eindruck, dass wir alle von der Mindestsicherung leben wollen, ist falsch. Viele Afghanen sind harte Arbeit seit der Kindheit gewohnt. Ich gehöre zur afghanischen Volksgruppe der Hazara. Viele Hazara lebten vor ihrer Flucht nach Europa im Iran. Dort sind wir Menschen der letzten Klasse und müssen uns durchkämpfen. Von einer Mindestsicherung würden Hazara im Iran nicht einmal träumen.

Nun soll die Mindestsicherung für subsidiär Schutzberechtigte auch in Österreich verschwinden. Das wird vor allem Afghanen treffen. Der Druck, jede Arbeit anzunehmen, wird noch höher, wenn sie nur noch 320 Euro bekommen oder 150 Euro, wenn sie zum Wohnen zurück ins Asylheim gehen.

Aber so viele einfache Jobs gibt es ja gar nicht. Mit dem Rad Essen für Uber auszuliefern, ist sehr beliebt bei Afghanen. Viele haben sich ein Rad besorgt. Jetzt nimmt Uber keine Afghanen mehr auf, habe ich gehört, weil es schon zu viele sind. Und auch die Löhne sind gesunken, weil so viele diesen Job wollen. Andere Afghanen arbeiten legal oder schwarz auf dem Bau oder in China-Restaurants. So viele Tellerwäscher braucht Österreich doch nicht.

Ein Freund könnte im Herbst sogar eine Lehre bei Siemens beginnen. Aber sein subsidiärer Schutz wird nicht verlängert.

Ist es nicht besser, wenn ein Analphabet zuerst die Hauptschule nachholt und dann in eine Lehre geht? Dort gibt es doch Arbeit. Das weiß ich. Ein Freund könnte im Herbst sogar eine Lehre bei Siemens beginnen. Aber sein subsidiärer Schutz wird nicht verlängert. Die Behörden stört, dass er noch immer mit Afghanen zusammenwohnt. Mit den 840 Euro Mindestsicherung konnte er sich aber nicht mehr als ein Zimmer in einer kleinen Wohnung mit vielen anderen Afghanen leisten. In Wien kosten ja WG-Zimmer mit zehn Quadratmetern schon 400 Euro.

Seit meiner Ankunft vor drei Jahren hat sich viel verändert. Damals musste ich mir Geld ausborgen, damit ich jeden Tag von Leoben nach Wien zum Deutschkurs fahren konnte. Heute lerne ich von meinem Arbeitskollegen Wörter wie "Oachkatzlschwoaf". Als Asylwerber bekam ich 150 Euro vom Staat, heute verdiene ich für 30 Stunden Arbeit pro Woche mehr als in der Mindestsicherung. Ich verkaufe Kleidung an Österreicher und habe auch privat mehr Kontakt mit ihnen als mit Afghanen. Ein Anfang ist gemacht.

Aber ich weiß nun auch, wie schwer es für uns ist, einen echten Job zu finden - selbst wenn man studiert hat und offen auf die Leute zugeht. Deswegen hoffe ich, dass auch andere Afghanen, die hier wirklich ankommen wollen, weiter eine Chance bekommen.

Mein blaues Hemd kann ich trotzdem nicht allen borgen.

Sozialhilfe: Kürzung trifft Afghanen voll

Sie kamen im Windschatten der Syrer. Nun leben mit 45.000 Personen fast genauso viele Afghanen in Österreich. Im Unterschied zu Syrern bekommen sie oft nur subsidiären Schutz, wenn sie nicht direkt persönlich verfolgt sind, aber wegen der Gefahren in der Heimat, etwa durch Krieg, nicht abgeschoben werden. Alleine 2017 erhielten 7000 Personen diese Form des Aufenthaltstitels, ein guter Teil davon Afghanen. Nach den Reformplänen der Regierung wird die Mindestsicherung von 863 Euro pro Person für subsidiär Schutzberechtigte künftig gestrichen. Sie fallen zurück in die Grundversorgung von 320 Euro pro Monat. Voll Asylberechtigte bekommen bei schlechten Deutschkenntnissen künftig 300 Euro weniger Mindestsicherung. Auch das trifft Afghanen stärker, die nicht selten als Analphabeten kommen.

* Innenpolitik-Redakteur Clemens Neuhold half Murtaza Tahiri (25) beim Niederschreiben seiner Erfahrungen. Neuhold holte den jungen Afghanen 2015 für ein Praktikum zu profil und erarbeitete mit ihm mehrere Artikel. Zu finden unter: profil.at/tahiri.