Ach, Europa!

Europa. Das Griechenland-Debakel stürzt die EU in eine schwere Krise

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Das war wieder einmal eine Woche, in der kein Licht in diesen langen, dunklen Tunnel fallen wollte. Am Montag hatte Standard & Poor’s das Rating Griechenlands gleich um drei Stufen auf CCC heruntergestuft. CCC – das ist die vorletzte Station. Danach kommt nur noch D wie Default, Pleite.
Am Dienstag, 11.40 Uhr, meldete die Austria Presse Agentur „Umfangreiche Streiks in Griechenland“. Um 11.41 Uhr lief die APA-Meldung über den Rekordzinssatz von fast 18 Prozent, den Griechenland jetzt am Markt für Geld zahlen müsste. Um 12.04 Uhr jagte FPÖ-Obmann Heinz Christian Strache ein markiges „FPÖ gegen weitere EU-Hilfe“ ins Netz.

Mittwochs stritt man sich im Nationalrat, Donnerstagmittag sickerte durch, dass die Regierungschefs auch nächste Woche keine Entscheidungen treffen werden. Und dann, um 14.17 Uhr, die nur begrenzt überraschende Nachricht: „Griechenland-Krise: Wien schweigt.“

Das ist dem Ballhausplatz kaum vorzuwerfen, es schweigen schließlich viele Big-Shots Europas: Barroso, Juncker und Trichet – sogar der schwatzhafte Berlusconi schweigt. Niemand weiß, wie die völlig außer Kontrolle geratene Situation wieder ins Lot zu bringen wäre. Tragödienhaft, als hätte das Buch einer der großen Hellenen geschrieben, beschleunigen sich die Geschehnisse. Dem erschöpften griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou – vergangenen Donnerstag feierte er seinen 59. Geburtstag nicht – versagt nicht nur die Opposition die nötige Gefolgschaft, auch Teile der eigenen sozialistischen Partei wollen nach den Massendemonstrationen der griechischen Gewerkschaften seinen Sparkurs nicht mehr mittragen.
Obwohl also die von den EU-Granden und vom Internationalen Währungsfonds immer wieder genannten Voraussetzungen nicht erbracht wurden, verständigten sich Europas Spitzen Donnerstagabend dann auf die Notfallvariante: Athen ­werden zwölf Milliarden Euro Soforthilfe aus der schon zugesagten 110-Milliarden-Tranche überwiesen, damit das Land wenigstens über den Juli kommt.

Insgesamt, so die düstere Prognose der Fachleute, benötigen die klammen Hellenen zehnmal so viel – 120 Milliarden. Zusätzlich zu den 110 schon vereinbarten, versteht sich.

Können sich die Euro-Partner beim Gipfel am 11. Juli nicht einigen, ist Griechenland schon im August handlungsunfähig, ein „failed state“, der seine Lehrer, Polizisten und Krankenhäuser nicht mehr bezahlen kann, dessen Banken kaputt und dessen Bürger der Armut preisgegeben sind – ein Somalia des Nordens.

Der Kontinent wäre bis ins Mark erschüttert.
Die Lehman-Pleite wäre gegen den dann ausbrechenden Orkan ein Lufthauch gewesen, meinen Experten.

„Ach Europa!“ hatte Hans Magnus Enzensberger 1987 eine Essaysammlung über den damals noch geteilten Kontinent genannt. „Ach Europa!“ hatte Jürgen Habermas 2008 seine viel beachtete Rede übertitelt, in der er sich eine politisch stärkere Union wünschte, die als internationale Akteurin zum Korrektiv für die USA wird.

Davon kann – wenn überhaupt – noch sehr lange nicht die Rede sein: Diesem Europa sind die Zügel entglitten, die rasende Fahrt in unbekannte Tiefen kann es im Moment nur durch waghalsige Manöver verzögern.
Wenn Griechenland fällt, dann fallen möglicherweise auch Irland, Portugal und Spanien. Belgien und Italien sind Wackelkandidaten. Frankreichs Banken sind in Griechenland mit 75 Milliarden Euro engagiert, so viel beträgt das österreichische Bundesbudget eines Jahres. Mittwoch drohte die Ratingagentur Moody’s die Bonität der drei Pariser Großbanken BNP ­Paribas, Crédit Agricole und Société Générale um zwei Punkte abzusenken.

Griechenland – Sargnagel Europas?
Im Südosten des Kontinents verkümmert ein Staat, der die Last der Vergangenheit nie wirklich bewältigt hat. Bis 1820 war das Land von den Osmanen besetzt und hatte noch lange danach alle westlichen Entwicklungssprünge verpasst: eine unfertige Demokratie, immer wieder von Bürgerkrieg, Faschistenmilitärs und Linksextremisten heimgesucht. Die Institutionen blieben rückständig und daher korrupt.

Um die Bedingungen für den Euro zurechtzufälschen, hatte die damalige konservative Regierung Gewährsmänner in die nationalen Statistikämter gesetzt, die auftragsgemäß die Zahlen frisierten. Der Schwindel flog erst auf, als 2009 die Regierung Papandreou antrat. Da war es schon zu spät.
Um die so genannten Maastricht-Kriterien, welche die Staaten erst Euro-würdig machen sollten, scherten sich freilich auch andere nicht. Nicht nur Griechenland, sondern auch Italien und Belgien waren viel stärker verschuldet als erlaubt, Deutschland und Frankreich überschritten schon bald nach der Euro-Einführung die magische 3-Prozent-Marke für die Neuverschuldung. Und bloß noch Makulatur ist der Artikel 125 des EU-Vertrags, in dem es heißt: „Ein Mitgliedsstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedsstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.“

Kein Wunder, dass die Europäer dieser Union immer weniger trauen. Sie hält sich nicht an ihr eigenes Regelwerk, während sie ihren Bürgern immer neue Unsinnigkeiten verordnet: Verbot banaler Glühbirnen, bürokratischer Normungsfuror, weltfremde Verordnungslust. Ab 2013 müssen auch im inländischen Zahlungsverkehr BIC- und IBAN-Codes angegeben werden, die bis zu 34 Ziffern lang sind – für ältere EU-Bürger eine kaum zu überwindende Hürde.

Jörg Leichtfried, Leiter der SPÖ-Delegation im Europaparlament, nützt Besuche in seinem steirischen Heimatbezirk Bruck an der Mur stets dazu, um die in der Bevölkerung herrschende Meinung zu aktuellen EU-Fragen auszuloten. Etwa vor einem halben Jahr sei die Stimmung gekippt, meint Leichtfried: „Bis zur Finanzkrise waren den meisten EU-Themen eher gleichgültig. Aber jetzt wird die EU immer mehr als Bedrohung und nicht mehr als Chance wahrgenommen. Die Zahl der Skeptiker wächst rasant.“

Der steirische Europapolitiker nennt dafür zwei Hauptmotive:
Die Führungsschwäche der EU-Politiker sei gerade in der andauernden Finanzkrise eklatant, und: „Jene Politiker, die sich um die Gesamtanliegen Europas im Wettstreit mit weltweiten Handelsmächten kümmern sollten, sind abgetaucht.“ Kommissionspräsident José Manuel Barroso melde sich nur noch zu weniger heiklen Themen. Und der neue EU-Ratspräsident Herman van Rompuy ziehe es nach seinen umstrittenen Warnungen vor einer „Katastrophe“ wegen der Griechenland-Krise vor, gar nicht mehr Stellung zu nehmen. Dies überlasse den Populisten und EU-Gegnern das Feld.

Die jedenfalls nützen ihre Chance. In Finnland haben die rechtskonservativen „Wahren Finnen“ bei den Parlamentswahlen im Mai ihren Stimmenanteil auf 19 Prozent erhöht, vor allem wegen ihres Kampfs gegen weitere Finanzhilfen für schwache Südländer. In Frankreich fordert Front-National-Chefin Marine Le Pen unverblümt den Ausstieg aus dem Euro und hat hervorragende Chancen, bei der Präsidentenwahl im nächsten Jahr zumindest in die Stichwahl zu kommen. Derzeit liegt sie in den Umfragen gleichauf mit Amtsinhaber Sarkozy. In Dänemark setzte die rechte Volkspartei als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur Pensionsreform durch, dass an den dänischen Außengrenzen wieder Kontrollen durchgeführt werden – eine klare Verletzung des im Schengener Abkommen festgeschriebenen Prinzips der Reisefreiheit. Die maßgeblichen EU-Politiker schwiegen zu diesem Anschlag gegen das Europa der Bürger.
In den Niederlanden und Belgien sammeln rechtsgerichtete Parteien Stimmen unter Wohlstandsverlierern, die gerne anonyme „Bürokraten“ in Brüssel für ihre Lage verantwortlich machen. Der holländische Rechtspopulist Geert Wilders marschiert regelmäßig vor der griechischen Botschaft auf.

Auch in den neuen Mitgliedsländern formieren sich EU-Gegner. In Ungarn attackiert die rechtsradikale Jobbik-Partei die EU wegen ihrer Förderpolitik für Roma und Sinti. Die Slowakei weigert sich, bei einem weiteren Hilfspaket für Griechenland mitzutun, weil das eigene Land schließlich ärmer sei als die Griechen. In Tschechien ist sogar der Präsident, Vaclav Klaus, ein entschiedener EU-Gegner. Und in Slowenien wurde die Regierung zuletzt für ihre geplanten Einsparungen im Pensionssystem – eine Forderung nach dem neuen Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU – abgestraft.

In Österreich, wo die Begeisterung für die EU nie annähernd so groß war wie in Resteuropa, wirbeln die Turbulenzen um die Griechen-Krise naturgemäß noch mehr politischen Flugsand auf. Seit sich die Lage zugespitzt hat, liegt Heinz-Christian Strache mit seiner FPÖ in praktisch allen Meinungsumfragen voran. In der profil-Umfrage rangiert er erstmals gleichauf mit der SPÖ auf Platz eins.

Noch nie hat er mit einem seiner Leibthemen so viel Zustimmung in der Bevölkerung gefunden: Nicht weniger als 84 Prozent sind laut profil-Umfrage so wie Strache der Meinung, Österreich werde das an Griechenland verborgte Geld nie mehr zurückbekommen. Nur zwölf Prozent glauben, Griechenland werde seine Schulden begleichen können.
Die dramatischen Entwicklungen der vergangenen Tage mündeten umgehend in eine FPÖ-Inseratenkampagne: „Sie fragen sich: Warum wird die Familienbeihilfe gekürzt. Die Antwort lautet: Weil SPÖ und ÖVP jeden Euro brauchen, um EU-Pleitestaaten Milliardengeschenke nachzuschmeißen.

HC Strache sagt:
Unser Geld für unsere Leut’!“ In dieser Tonlage geht es jetzt noch lange weiter – mindestens bis zur Nationalratswahl 2013.
In der Woche vor dem FPÖ-Parteitag wärmte der FPÖ-Obmann in einem „Standard“-Interview schon für den Wahlkampf auf: „Ein Bundeskanzler Strache“ würde als erste Maßnahme der EU klarmachen, „wir können die EU-Beiträge nicht mehr zahlen. Wir brauchen dieses Geld für eigene Notwendigkeiten.“

So lächerlich derartige Ansagen erscheinen mögen – die Akteure in der EU selbst verleihen ihnen Glaubwürdigkeit. Gleich vier der 17 österreichischen Abgeordneten im Europaparlament gerieten in den letzten Monaten in sehr schiefes Licht: Der ÖVP-Abgeordnete Ernst Strasser erwies sich als käuflich, seine Fraktionskollegin Hella Ranner stolperte über Spesenabrechnungen, der Ego-Fraktionschef Hans Peter Martin rechnete sehr privat die staatlichen Wahlkampfkosten ab, und der ÖVP-Mandatar Paul Rübig wird in diesem profil als Mann der Lobbys vorgeführt.

Solche Skandale verdecken, wie sehr Österreich seit dem EU-Beitritt vor 16 Jahren von dieser Mitgliedschaft profitiert hat. Immerhin haben sich die Exporte in den EU-Raum seit 1995 verdreifacht, die österreichischen Direktinvestitionen ins Ausland haben sich gar vervierzehnfacht. Nach Berechnungen des Wirtschaftsforschungsinstituts aus dem Vorjahr ist Österreichs Wirtschaft pro Jahr im Schnitt um 0,6 Prozent stärker gewachsen, weil wir EU-Mitglied sind, 12.000 Arbeitsplätze pro Jahr sind ein Produkt des EU-Effekts. Seit 2002 gibt es auch den von der damaligen Staatssekretärin Brigitte Ederer 1995 versprochenen „Tausender“ (in Schilling) pro Familie. Laut Zahlen von Wifo und Industriellenvereinigung erspart sich eine vierköpfige Familie durch die EU-Mitgliedschaft rund 190 Euro im Monat. Das wären immerhin schon zweieinhalb Ederer-Tausender.
Der EU wird der gestiegene Wohlstand nicht zugeschrieben, selbst dort nicht, wo die Bevölkerung besonders deutlich davon profitiert hat. Im Ziel-1-Gebiet Burgenland, in das die EU seit 1995 jährlich 35 Millionen Euro pumpt, ist die EU-Ablehnung um keinen Deut geringer als in anderen Bundesländern.

Für Brüssel kann es nur ein schwacher Trost sein, dass es Institutionen gibt, die auf noch mehr Ablehnung stoßen. Laut einer vergangene Woche durchgeführten Umfrage sind 92 Prozent der Griechen mit ihrer Regierung unzufrieden. 88 Prozent sagen übrigens dasselbe über die Op­position.