Familie Rothschild klagt Stadt Wien: "Als ob die NS-Dekrete aufrecht wären"

Vor 100 Jahren stiftete Nathaniel Rothschild die Nervenheilanstalt am Wiener Rosenhügel. 1938 lösten die Nazis die Stiftung auf, 1956 wurde sie unter fragwürdigen Bedingungen wiederhergestellt.

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Nun könnte sich die Stadt Wien das 80-Millionen-Euro-Stiftungsvermögen einverleiben -gegen den Willen eines Rothschild-Nachfahren. Dieser zieht vor Gericht.

Nathaniel Freiherr von Rothschild, geboren 1836, sollte Bankier werden, in der Tradition seines Vaters Anselm (1803-1874) und seines Großvaters Salomon Mayer Rothschild (1774-1855), des Begründers des Wiener Zweiges der Familie. Doch Nathaniel überließ das Bankgeschäft seinem jüngeren Bruder Albert und widmete sich lieber den schönen Künsten und karitativen Tätigkeiten. Er starb kinderlos 1905. In seinem Testament hatte er 20 Millionen Kronen (heute 100 Millionen Euro) zur Errichtung einer Heilanstalt für mittellose Nervenkranke gestiftet. 1908 erwarb die Nathaniel Freiherr von Rothschild'sche Stiftung ein Areal von 230 Hektar am Rosenhügel an der damaligen Grenze zwischen Wien und Niederösterreich. 1912 wurde das Krankenhaus eröffnet. Als Neurologisches Zentrum Rosenhügel besteht es noch heute, ebenso die gemeinnützige Rothschild'sche Stiftung, in deren Eigentum das Grundstück, die ursprünglichen Pavillons und Verwaltungsgebäude stehen.


100 Jahre nach seiner Gründung gerät das Krankenhaus allerdings in eine Kontroverse, die das Ansehen Wiens beschädigen könnte. Gern rühmt sich die SPÖ-dominierte Bundeshauptstadt ihres Umgangs mit der dunklen NS-Vergangenheit. Im Fall der Rothschild'schen Stiftung fehlt diese Sensibilität, wie Recherchen von profil, "Kurier" und "Financial Times" belegen: eine Bürokratie, die sich schon vor Jahrzehnten verselbstständigte; eine Stadtregierung, die fragwürdige Gesetze beschließt; Unvereinbarkeiten, fehlendes Unrechtsbewusstsein, Ignoranz. Die Folge: Das beachtliche Vermögen der Nathaniel Freiherr von Rothschild'schen Stiftung für Nervenkranke könnte bald vollends der Stadt Wien anheimfallen. Schon vor 20 Jahren verleibte sich die Gemeinde einen Teil der Stiftung ein - ohne Widerspruch. Doch im Gegensatz zu damals wehrt sich nun ein in New York lebender Nachfahre der Wiener Rothschilds gegen die behördlichen Eingriffe und zieht vor Gericht. Geoffrey R. Hoguet, 69, kennt Österreich. Der New Yorker Unternehmer war früher für die CA tätig. Hoguet ist ein Urenkel von Albert Rothschild, Nathaniels jüngerem Bruder. Hoguets Großvater Alfons verließ Wien kurz vor der Machtübernahme der Nazis 1938. Alfons' Bruder Louis wurde verhaftet und von der Gestapo gezwungen, die Vermögenswerte der Familie (Unternehmensbeteiligungen, Wertpapiere, Immobilien, Kunstschätze) zu übertragen.


Erst vor einigen Monaten erfuhr Hoguet von der Existenz der Rothschild'schen Stiftung - und vom fragwürdigen Umgang damit. Der von ihm betraute Wiener Rechtsanwalt Wulf Gordian Hauser brachte im November 2019 am Bezirksgericht Hietzing im Wege eines Außerstreitverfahrens mehrere gegen die Stadt Wien gerichtete Anträge ein. Die Verhandlung ist für 20. Februar angesetzt. Im Schriftsatz des Anwalts werden schwere Vorwürfe erhoben. Die Stadt Wien sei im Umgang mit der Stiftung "so verfahren, als ob die nationalsozialistischen Enteignungsdekrete nach wie vor aufrecht wären". Im April 1939 war die Stiftung per Dekret des Gauleiters und Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, Josef Bürckel, aufgelöst worden. Abgewickelt wurde das Enteignungsverfahren vom Stillhaltekommissar für Organisationen, Vereine und Verbände (einer Unterabteilung des Reichskommissars). Das Vermögen der Stiftung wurde - nach Abzug einer "Aufbauumlage für Österreich" und einer Verwaltungsgebühr in Gesamthöhe von 651.250 Reichsmark - ins Eigentum der Stadt Wien übertragen.

Zuvor hatte Gauleiter Bürckel noch schnell 50.000 Reichsmark in bar und Wertpapiere in Höhe von 1,043 Millionen Reichsmark (heute knapp sechs Millionen Euro) beschlagnahmt, wie aus profil vorliegenden Unterlagen der Stadt Wien hervorgeht. Das Vermögen der Stiftung bestand 1938 aus dem Krankenhaus am Rosenhügel und dem Maria-Theresien-Schlössel in der Hofzeile in Döbling, in dem ebenfalls Nervenkranke behandelt wurden. Der Wert der beiden Liegenschaften betrug laut einer Vermögensbilanz vom 1. Mai 1938 3,9 Millionen Reichsmark. Dazu kamen Wertpapiere und Bankguthaben in Höhe von 1,3 Millionen.

Das Krankenhaus am Rosenhügel wurde nach der Enteignung der Stiftung weitergeführt. Während des Zweiten Weltkrieges diente es als Lazarett. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches lief der zivile Spitalsbetrieb wieder an. Im Juli 1956 wurde die Rothschild'sche Stiftung mit Beschluss der Wiener Landesregierung wiederhergestellt. Rechtliche Grundlage war das Wiener Stiftungs- und Fonds-Reorganisationsgesetz. Dieses bestimmte, dass von den Nazis liquidierte Stiftungen mit ihrer früheren Zweckbestimmung und in ihrer früheren Organisationsform zu rekonstruieren seien. Doch genau dies passierte nicht.

Vor 1938 war ein zwölfköpfiges Kuratorium für die Verwaltung der Stiftung zuständig. Laut der Satzung der Stiftung aus dem Jahr 1907 sollen diesem ein Mitglied der Familie Rothschild als Vorsitzender, Vertreter der Stadt Wien und des Landes Niederösterreich sowie medizinische und technische Sachverständige angehören. Die im Jahr 1956 involvierten Rathausbeamten ignorierten wider besseres Wissen die Statuten. "Mangels eines derzeit bestehenden Stiftungsorgans" wurde per Bescheid der Magistrat der Stadt Wien zur Verwaltung der Stiftung bestellt. Niemand im Rathaus bemühte sich ernsthaft darum, Kontakt zu den Nachfahren der Rothschilds herzustellen und wieder ein Kuratorium einzusetzen. Und nebenbei ignorierte die Wiener Stadtregierung auch den Anspruch des Landes Niederösterreich auf Vertretung in der Stiftung.


Das absurde Ergebnis der behördlichen Selbstermächtigung: Der Magistrat rekonstruierte die Stiftung, betraute mit deren Verwaltung den Magistrat, erwirkte vom Magistrat die Rückstellung der Liegenschaften und beließ deren Verwaltung dauerhaft beim Magistrat. Im Schriftsatz von Geoffrey R. Hoguets Anwälten heißt es dazu: "Durch dieses Insichgeschäft hat die Stadt Wien sich das Stiftungsvermögen unter Verletzung des Stifterwillens treuwidrig zugeeignet, wobei die formell weiterbestehende Rechtspersönlichkeit der Stiftung nur noch eine juristische Hülle ist." Das Fazit: "In Wahrheit hat die Stadt Wien durch die von ihr getroffenen Regelungen die formelle Rückstellung total unterlaufen." Schärfer formuliert: De facto befindet sich das Stiftungsvermögen im Besitz der Stadt Wien - seit der Enteignung durch die Nazis bis heute.

Im Magistrat lief die Verwaltung der Stiftung zu Beginn ziemlich holprig ab. Zwei Magistratsabteilungen stritten über die Modalitäten der Rückübertragung des Vermögens. Sogar zivile Gerichte mussten angerufen werden. Die Nervenheilanstalt Rosenhügel entwickelte sich indes zum führenden neurologischen Krankenhaus Wiens.

Erst 1997 wurde die Rothschild'sche Stiftung einer kleinen Öffentlichkeit wieder bewusst. Der Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) beschloss, die im Vergleich zum Rosenhügel kleinere Nervenheilanstalt Maria-Theresien-Schlössel in das Otto-Wagner-Spital zu übersiedeln. Im Dezember 2001 verkaufte die Stiftung die Liegenschaft an die Stadt Wien -ein weiteres Insichgeschäft. Kaufpreis: 92 Millionen Schilling (6,7 Millionen Euro). Diesem lag ein Schätzungsgutachten zugrunde, das einen Wert von lediglich 315 Euro pro Quadratmeter ermittelte. "Der Verdacht eines künstlich niedrig festgelegten Kaufpreises drängt sich daher auf", heißt es dazu in der Eingabe beim Bezirksgericht Hietzing. Die Wiener Grünen, damals in Opposition, bezeichneten die Vorgänge um das Schlössel als "zweite Enteignung". Bürgermeister Michael Häupl reagierte gereizt: "Ich bin nicht bereit zu akzeptieren, dass unter dem Mantel der Immunität ein Vorwurf in der Diktion der Nationalsozialisten erhoben wird."

Nun sieht sich Häupls Nachfolger Michael Ludwig mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert. Grund ist ein kurioser Vorgang vom 31. Mai 2017. Da beschloss der Magistrat eine Änderung der ursrpünglichen Stiftungssatzung mit der Begründung, diese sei "zur Festsetzung des Stammvermögens der Stiftung und wegen der Änderungen bei der Verwaltung der Stiftung erforderlich". Seit 2017 ist der zuständige Dienststellenleiter im Magistrat für die Stiftung verantwortlich. Eine kaum zu übertreffende Groteske: Nachdem der Magistrat die Stiftung 60 Jahre lang statutenwidrig verwaltet hatte, wurde dieser Zustand nun statutarisch festgeschrieben.

Eine weitere Änderung der Satzung betrifft die mögliche Auflösung der Stiftung. In diesem Falle soll das Stiftungsvermögen der Stadt Wien zufallen, die es für gemeinnützige Zwecke zu verwenden hat.

Ein Auflösungsgrund könnte bald eintreten. Formal ist das Neurologische Zentrum ohnehin kein eigenes Spital mehr, sondern in das Krankenhaus Hietzing eingegliedert. Und nun mehren sich die Anzeichen, dass der KAV Einrichtungen am Rosenhügel in ein anderes Spital absiedelt, und die Liegenschaft in der Folge veräußert wird.

Im Vorjahr wurden bei der Hietzinger Bezirksvorstehung die Abtrennung von Bauplätzen und eine Stellungnahme zur Entfernung von 172 Bäumen auf der Krankenhaus-Fläche beantragt. Schon in der Vergangenheit gab es Pläne, auf dem Areal einen Gemeindebau zu errichten.

Das Vermögen der Stiftung ist jedenfalls beträchtlich. Die Liegenschaft am Rosenhügel ist geschätzt 70 Millionen Euro wert. Dazu kommen Bankguthaben in Höhe von sieben Millionen Euro.


In seiner Eingabe beim Bezirksgericht stellt der Anwalt von Geoffrey R. Hoguet eine Reihe von Anträgen . Zuvorderst soll der derzeitige Stiftungsverwalter, der Magistrat Wien, abberufen werden. Solange die Behörde die Stiftung leite, bestehe "wegen der vielfachen Berührungspunkte zwischen Stiftung und Gemeinde eine permanente Interessenkollision". Die Änderung der Stiftungssatzung 2017 und der Verkauf des Maria-Theresien-Schlössels 2002 sollen für nichtig erklärt werden. Die Stadt Wien engagierte als Beistand in der Causa den Rechtsanwalt und früheren SPÖ-Abgeordneten Hannes Jarolim. Laut diesem sei es "bemerkenswert ", wie versucht werde, "Vereinbarungen zur Rothschild'schen Stiftung, welche vor Jahrzehnten in größtem Respekt und Einvernehmen und ganz im Sinne des ursprünglichen Stiftungszwecks geschlossen wurden, nun in Frage zu stellen". Aus Jarolims Sicht seien die Argumente der Gegenseite "nicht haltbar". Für die Darstellung auf einer Website der Gemeinde Wien ("geschichtewiki"), es hätte 1963 einen Vergleich mit den Rothschild-Erben gegeben, wurde kein Beleg vorgelegt. Bleibt die Frage, warum die Stadt Wien so agierte .

Die freundliche Antwort: Die Verwaltung verlor schlicht die Übersicht und die Politik ihr Gespür für historische Verantwortung. Die weniger freundliche Antwort: Da die Rothschilds nach Kriegsende nicht nach Wien zurückkehrten und ihre Stiftung gewissermaßen verwaist war, nützte die Stadt Wien die Gelegenheit, sich das Vermögen einzuverleiben. Zu ihren Motiven, ein Gericht einzuschalten, heißt es aus dem Umkreis der Rothschild-Nachfahren , sie wollten das Vermächtnis ihres Uronkels ehren, das durch das Handeln der Stadt Wien bedroht sei. Die Rothschild'sche Stiftung solle wie vor der Arisierung 1939 organisiert sein. Es gebe vonseiten der Nachfahren keine persönlichen finanziellen Interessen. Das Vermögen der Stiftung solle im Sinne von Nathaniel Rothschild in die Behandlung und Betreuung psychiatrisch erkrankter Menschen in Österreich fließen. Wesentlich sei, dass die Verwaltung des Stiftungsvermögens wieder von einem von der Stadt Wien unabhängigen Kuratorium zu erfolgen habe, wie dies in der ursprünglichen Stiftungsurkunde festgeschrieben sei. Die Befürchtung der Nachfahren, ihr Urgroßonkel könnte in Wien in Vergessenheit geraten, ist berechtigt. Auf der Website des KAV zur Geschichte des Neurologischen Zentrums Rosenhügel wird der Name "Rothschild" nicht erwähnt. Nathaniel Freiherr von Rothschild fand seine letzte Ruhe am Wiener Zentralfriedhof. n

Rothschilds Nachfahren befürchten, ihr mildtätiger Urgroßonkel könnte in Vergessenheit geraten. Auf einer Website der Stadt zum Spital Rosenhügel wird sein Name nicht erwähnt.

Erschienen in profil 5/2020 vom 26.01.2020.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.