Interview
Flüchtlinge zurück nach Afrika – „Sonst kippt das gesamte Asylsystem“
Der Architekt des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens, der Salzburger Gerald Knaus, glaubt weiterhin fest an die Möglichkeit, Asylverfahren von Europa nach Ruanda & Co. auszulagern.
Von Clemens Neuhold
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Die britische Regierung wollte Flüchtlinge nach Ruanda überstellen, damit sie dort einen Asylantrag stellen. Doch das höchste Gericht in London hat den Plan gekippt, weil Ruanda kein sicherer Drittstaat ist. War das von Anfang an eine Schnapsidee?
Gerald Knaus
Nein. Auch wenn das überraschend klingt: Das ist für das Konzept sicherer Drittstaaten ein gutes Urteil. Denn damit hat nun schon das dritte Gericht festgestellt, dass Asylverfahren in sicheren Drittstaaten nicht im Widerspruch zur Menschenrechtskonvention stehen, solange es dort Zugang zu einem fairen Asylverfahren gibt. Das Gericht bemängelt, dass es solche Verfahren in Ruanda noch nicht gibt. Mit der Betonung auf noch.
Werden die hohen Asyl-Standards in Europa für Länder wie Ruanda jemals erreichbar sein? Nicht einmal Griechenland oder Ungarn erfüllen diese.
Gerald Knaus
Zu erklären, kein afrikanisches Land wäre in der Lage, ein sicherer Staat für Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu sein, selbst wenn es wollte, das grenzt an Rassismus.
Australien genügten wenige Transfers auf Nauru, um die Boote binnen kurzer Zeit zu stoppen.
Sie schlagen vor, dass das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) faire Asylverfahren sicherstellen könnte.
Gerald Knaus
Das UNHCR führt seit Jahrzehnten Asylverfahren auf der ganzen Welt durch, seit 2019 auch in Ruanda. Es müsste ein Interesse haben, zu zeigen, dass irreguläre Migration reduziert werden kann, ohne die Flüchtlingskonvention zu verletzen. Besonders in einer Zeit, in der immer mehr Länder – von Pakistan bis Ungarn – dagen verstoßen, indem sie Schutzsuchende einfach abweisen, vertreiben oder per „Pushback“ illegal zurückstoßen.
Wie weiter mit dem Ruanda-Plan?
Gerald Knaus
Jetzt geht es darum, auf dem Urteil in London aufzubauen. Und dabei am Ärmelkanal zwischen der EU und Großbritannien zu beginnen. Im letzten Winter kamen 1500 Menschen monatlich in Booten nach Großbritannien. Wenn ein paar EU-Länder London jetzt anbieten, jeden, der losfährt, sofort zurückzunehmen, würde das Geschäft der Schmuggler zusammenbrechen. Damit würde Europa beweisen, dass solche Abkommen wirken. Das ist auch im Interesse Österreichs. In weiterer Folge könnte die EU mit Großbritannien die Infrastruktur für Flüchtlinge in Ruanda nutzen, um das Sterben im Mittelmeer zu stoppen. Durch UNHCR-Asylverfahren in Ruanda. Ist das erfolgreich, könnten andere Staaten dem Beispiel Ruandas folgen. Es gibt in Afrika und anderswo viele Staaten, die infrage kämen, wenn sie wollen.
Wie soll ein kleines Land wie Ruanda Zigtausende Asylwerber aus Europa aufnehmen? Allein in diesem Jahr kamen 180.000 Menschen übers Mittelmeer.
Gerald Knaus
Darum geht es nicht. Es geht um das Signal, dass ab einem Tag X jeder, der irregulär aus Libyen oder Tunesien nach Italien kommt, nach einer Zulässigkeitsprüfung nach Ruanda überstellt wird. Dann würde die Zahl der Ankommenden und Ertrinkenden schnell fallen.
Was macht Sie da so sicher?
Gerald Knaus
Knaus: Beim Inkrafttreten der EU-Türkei-Erklärung am 20. März 2016 gab es dieses Signal. Die Zahl der Ankommenden fiel von einer Million in den zwölf Monaten vor der Erklärung auf 26.000 im Jahr danach. Es starben im Jahr danach auch 1000 Menschen weniger in der Ägäis als davor. Australien genügten 2001 und erneut 2013 wenige Transfers in die Inselrepublik Nauru und nach Papua-Neuguinea, um die Boote binnen kurzer Zeit zu stoppen. Stichtage plus Drittstaaten sind der Schlüssel.
Die australische Abschottungspolitik steht synonym für Unmenschlichkeit.
Gerald Knaus
Ja. Einerseits: Kein europäisches Gericht hätte die Transfers 2013 nach Nauru erlaubt, denn dort wurden die Bedingungen der Europäischen Menschenrechtskonvention („keine unmenschliche Behandlung“) nicht erfüllt. Andererseits ist wahr, dass auf dem Weg über das Meer nach Australien seit 2013 kaum noch jemand sein Leben verloren hat, im Mittelmeer aber seit 2014 mehr als 28.000. Das sind Todeszahlen wie in einem Krieg, und es ist ein moralisches Versagen Europas. Dazu kommt heute das politisch explosive Gefühl des Kontrollverlusts vieler Europäer. Dieses Gefühl droht, das gesamte Asylsystem politisch zum Kippen zu bringen.
Was würde mit abgelehnten Asylwerbern in Ruanda passieren?
Gerald Knaus
Die meisten würden wohl freiwillig heimkehren, mit Unterstützung durch die Internationale Organisation für Migration (IOM). Jene mit positivem Bescheid blieben in Ruanda oder könnten umgesiedelt werden.
Was haben Länder wie Ruanda von solchen Flüchtlingsdeals?
Gerald Knaus
Geld für Entwicklung kann eine Rolle spielen, wie im UK-Ruanda-Abkommen. Dazu käme aber auch ein Durchbruch bei legaler Mobilität für Afrikaner: mehr Stipendien, leichtere Visavergabe, legale Arbeitsmöglichkeiten.
Sie beraten viele Regierungen. Welche Pläne wälzen Ihre „Kunden“ aktuell?
Gerald Knaus
Wir sprechen mit der deutschen Bundesregierung, Ministern in Den Haag und Griechenland und neulich dem CDU-Parteipräsidium, der Regierung in Gambia, EU-Außenpolitikchef Josep Borrell oder, letzte Woche in Stockholm, mit einem schwedischen Minister. Wir tun das als unabhängige Experten ohne Auftrag und Bezahlung. Sichere Drittstaatslösungen, Migrationsabkommen mit Stichtagen und Kontingente für legale Aufnahme sind die zentralen Fragen.
© Mike Wolff TSP / dpa Picture Alliance / picturedesk.com
Gerald Knaus, österreichischer Soziologe, Migratio
Der Soziologe und Migrationsforscher Gerald Knaus (53) von der "Europäischen Stabilitätsinitiative" berät Staatskanzleien auf der ganzen Welt. Sein Ansatz, den gordischen Asylknoten durch Migrationspakte zu lösen, ist gefragt. Die größte Herausforderung dabei: Alle Seiten müssen von den Deals profitieren.
Sie sind der Architekt des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals. Für zehn Milliarden Euro hielt die Türkei Migranten aus Syrien oder Afghanistan von der Überfahrt in die EU ab. Was blieb vom Deal?
Gerald Knaus
Die EU-Türkei Erklärung mobilisierte eine historische Summe zur Unterstützung der größten in den letzten Jahren von irgendeinem Staat der Welt aufgenommenen Zahl von Flüchtlingen, viele Millionen Syrer in der Türkei. Das bleibt im Interesse der EU, der Türkei und der Flüchtlinge vor Ort. Es ging auch um humane Kontrolle in der Ägäis. All das ist nach vier Jahren im März 2020 zusammengebrochen. Seitdem nimmt die Türkei offiziell niemanden mehr aus Griechenland zurück. Inoffiziell schieben griechische Behörden Zehntausende durch „Pushbacks“ zurück. Das ist für niemanden gut.
Die Kritiker sagen, Europa hat sich dadurch erpressbar gemacht. Erdoğan wettert immer stärker gegen den „Westen“.
Gerald Knaus
Kooperation ist alternativlos. Es geht um gute Diplomatie. Es ist im Interesse der EU, die Integration von Millionen Flüchtlingen in der Türkei zu unterstützen. Es ist im Interesse der EU und Ankaras, dass an den EU-Außengrenzen wieder Rechtsstaatlichkeit hergestellt wird.
Warum laufen EU-Abschiebungen in nordafrikanische Staaten so schleppend?
Gerald Knaus
Überstellungen laufen selbst innerhalb Europas schleppend. Der Grund: Politiker machen sich nicht beliebt, wenn sie Migranten in großer Zahl zurücknehmen. In Westafrika sagen mir selbst Politiker, die irreguläre und lebensgefährliche Migration reduzieren wollen, es würde sich wie ein Verrat anfühlen, jene zurückzunehmen, die es unter Lebensgefahr irgendwie geschafft haben. Für viele Familien fallen dann auch Geldüberweisungen weg. Es gibt auch in Gambia eine Öffentlichkeit.
Die EU hat Tunesien 900 Millionen Euro angeboten, wenn es Schlepper bekämpft und Migranten an der Überfahrt hindert. Zu wenig?
Gerald Knaus
Dieses Abkommen zeigt eher, wie man es nicht machen sollte. Es ist nicht klar, was die Einigung den Tunesiern bringt. Es ist nicht klar, wie genau Tunesien irreguläre Migration reduzieren soll, außer durch Gewalt gegen Menschen aus Subsahara-Afrika, wie wir im Sommer sahen.
Was ist die Alternative?
Gerald Knaus
Abkommen mit Staaten, die für diese attraktiv sind: mit Visa-Erleichterungen, Kontingenten für legale Arbeitskräfte, Ausbildungsinitiativen im Herkunftsland. Kooperation auf Augenhöhe. Eine legale Mobilitätswende. Und klare Konzepte.
Die britische Regierung geht im Fall von Ruanda davon aus, dass jeder dorthin überstellte Flüchtling 195.000 Euro kostet. Ein hoher Preis für die Auslagerung des Flüchtlingsproblems.
Gerald Knaus
Was sind Tausende gerettete Menschenleben wert? Es geht darum, die irreguläre Migration von Zehntausenden zu stoppen. Pro-Kopf-Rechnungen sind hier unseriös.
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Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.