100. Todestag von Kaiser Franz-Joseph I.

Franz Joseph I.: Verklärter Kaiser, hilfloser Monarch

Franz Joseph I.: Verklärter Kaiser, hilfloser Monarch

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Der fiebernde Greis war den ganzen düsteren Novembertag lang in Schönbrunn hinter seinem Schreibtisch gesessen, gegen 18 Uhr brachte man ihn zu Bett. Franz Joseph gab noch eine letzte Anweisung: „Bitte mich morgen um halb vier wecken; ich bin mit meiner Arbeit nicht fertig geworden.“ Um 21.05 Uhr verschied der Kaiser von Österreich, König von Ungarn sowie Großherzog, Herzog und Fürst von 45 weiteren im vollen Titel angeführten Provinzen – darunter auch solchen, die Franz Joseph in seinen Kriegen längst verloren hatte. Todesursache: Herzschwäche nach Lungenentzündung.

Kaum etwas beschreibt die 68 Jahre währende Regierungszeit des Kaisers besser als dessen letzte Worte: Dieser Mann hat tatsächlich meist nur seine Pflicht getan. Das Kriegführen hatte er schon als Mittdreißiger aufgegeben, nachdem er zwei Mal innerhalb weniger Jahre schwer geschlagen worden war. Nur das nach dem Abzug der Osmanen am Präsentierteller servierte Bosnien schnappte er sich 1878 noch. Franz Joseph führte sein Reich durch Verwaltungsakte, zuletzt beschränkte er sich auf die Rolle des Symbols, das noch zusammenhielt, was nicht mehr zusammengehören wollte.

Die Verklärung Franz Josephs setzte erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Auf den Trümmern der verwüsteten Dörfer und Städte erinnerte man sich nun an den alten Herrn mit dem Backenbart, an die Kutschen auf der Ringstraße, an die Paraden im Prater, an die Saison in Ischl und vergaß, dass ja auch Franz Joseph einen Weltkrieg zu verantworten hatte.

Illustriertenmacher und Schnulzenfilmer griffen das Interesse des Publikums gerne auf, der Politik gefiel es: Der kommunistische Stadtrat Wiens, Viktor Matejka, empfahl 1947 ausdrücklich die Produktion österreichischer Heimatfilme, um der Bevölkerung alle großdeutschen Flausen auszutreiben. Die Preußen durften darin auch wieder unsympathisch dargestellt werden.

Die Franz-Joseph-Bilder wurden im republikanischen Österreich nie abgehängt.

Man spielte jetzt gerne Ralph Benatzkys „Weißes Rössl am Wolfgangsee“, in dem der gute Kaiser mitleidsvoll besungen wurde: „Draußen im Schönbrunner Park / sitzt ein alter Herr / sorgenschwer.“

Den Rest erledigten ab 1956 die drei „Sissi“-Filme.

Franz Joseph – ein liebender Familienvater, ein Beschützer seiner Völker, die vom Alpenbogen bis in die weiten Ebenen Galiziens ihr Leben unter Habsburgs Krone führten. Franz Joseph – nach den bösen Jahren der Hitlerei das gütige Gesicht in Österreichs Geschichte. Daran durfte nicht gekratzt werden. Als in Michael Kehlmanns Fernsehverfilmung des Joseph-Roth-Romans „Radetzkymarsch“ 1965 der alte Kaiser kurz im Nachthemd zu sehen war, gab es einen veritablen Skandal. Die ÖVP brachte die Sache im Nationalrat zur Sprache. Der Zeitungs-Boulevard tobte.

Die Franz-Joseph-Bilder wurden im republikanischen Österreich nie abgehängt. Im Sitzungssaal des Ministerrats am Ballhausplatz prangt bis heute ebenso ein idealisierendes Kaiser-Gemälde wie im Festsaal der Industriellenvereinigung. Keine größere Stadt im Land ohne Franz-Joseph-Straße, in Wien ist der am Donaukanal gelegene Teil des Rings nach ihm benannt: Franz-Josefs-Kai. Richtung Nordwest steigt man am Franz-Josefs- Bahnhof in den Zug. Das „Sozialmedizinische Zentrum Süd“ nennen die Wiener bis heute Franz-Josefs-Spital.

Die hingebungsvolle Verklärung des alten Kaisers kontrastiert stark mit den politischen Gefühlen der Bevölkerung gegenüber der Monarchie. Für den „Bund österreichischer Monarchisten“ stimmten bei den Nationalratswahlen 1953 gerade 0,03 Prozent (im Kino liefen damals „Kaisermanöver“ und „Kaiserwalzer“). Die „Christlich Soziale Allianz“ von Kaiserenkel Karl Habsburg kam bei den Europawahlen 1999 auf magere 1,54 Prozent. Den Kaiser will man am Kitsch-Kaffeehäferl, aber nicht in der Hofburg.

Die Dynastie war in unruhigen Gewässern, als Franz Joseph Karl 1830 in Schönbrunn geboren wurde.

Einer genaueren Durchleuchtung hält das herrschende Franz-Joseph-Bild ohnehin nicht stand. Fast nichts daran stimmt: Franz Joseph trug in der Öffentlichkeit stets Uniform; aber er war nach Solferino 1859 nie mehr auf einem Schlachtfeld. Er gilt als gütiger Pater familias; sein Sohn Rudolf ging freilich nicht zuletzt an der Unnahbarkeit seines kaiserlichen Vaters zugrunde. Im Konkordat von 1855 unterstellte Franz Joseph das Eherecht wieder der kirchlichen Gerichtsbarkeit und korrigierte damit eine Maßnahme seines liberaleren Urgroßonkels Joseph II.; er selbst pflegte ab seinem 45. Lebensjahr außereheliche Beziehungen zu weit jüngeren Frauen, Sex inklusive.

Franz Josephs Stahlrohrbett ist ein Fixpunkt bei den Schönbrunner Schlossführungen, seine „spartanische“ Lebensführung wird dort gerühmt; tatsächlich lebte der Kaiser in für 99 Prozent seiner Untertanen unvorstellbarem Prunk. Für seine Frauengeschichten gab er Millionen aus.

Die Dynastie war in unruhigen Gewässern, als Franz Joseph Karl 1830 in Schönbrunn geboren wurde. Sein Großvater, Kaiser Franz I., war ein alter Mann, dessen Söhne Ferdinand und Franz Karl (Franz Josephs Vater) waren nicht eben wohl geraten. Franz Karl zeichneten nur geringe geistige Gaben aus, er liebte die Beschaulichkeit und gab sich höchstens der Jagd und dem Theater hin. Ferdinand, der ältere der beiden, litt seit seiner Geburt an einem Hydrocephalus („Wasserkopf“) und erblicher Epilepsie. Obwohl er praktisch nicht regierungsfähig war, übernahm Ferdinand nach dem Tod seines Vaters 1835 die Krone.

Während sein behinderter Onkel regierte, wuchs Franz Joseph in einem anderen Trakt Schönbrunns auf. Er interessierte sich schon als Kind fast nur für die Armee, übte mit zwei Jahren den Gleichschritt und kannte mit drei die Rangabzeichen. Zu Weihnachten bekam er stets eine Uniform.

Mit Franz Josephs Erziehung wurde Heinrich Graf Bombelles beauftragt, dessen Eltern vor der Französischen Revolution nach Wien geflohen waren. Bombelles war naturgemäß ein dem Absolutismus verschriebener Mann. Soldatischer Drill wurde dem Kind von Johann Graf Coronini-Cronberg vermittelt, einem „Militär von strengsten Ansichten“. Geschichte lehrte ihn der von Staatskanzler Metternich ausgesuchte Dr. Joseph Fick, ein antikonstitutioneller Fanatiker. Politik und Staatskunst trug ein Mal pro Woche Metternich selbst vor. Franz Joseph war zumindest diesbezüglich ein gelehriger Schüler. In einer Semesterabschlussarbeit führte er die Einberufung der französischen Nationalversammlung 1789, welche die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte beschloss, auf die „eingewurzelte Sittenlosigkeit und die gottlosen Philosophen“ zurück.

In Wien waren im März zuerst die Studenten aufgestanden, dann die Bürger und schließlich die entrechteten Arbeiter.

In seinem Paradewerk „Die österreichische Seele“ (1984) sah der Psychiater Erwin Ringel diese frühen Jahre als negativ prägend für Franz Joseph: „Der Mann wurde schon in der Kindheit durch seine Mutter und die Erziehung vernichtet, hat dann 68 Jahre regiert und in dieser überlangen Zeit keine einzige konstruktive Idee gehabt.“

Selbst Erzieher Bombelles klagte, der kleine Franz habe halt überhaupt keinen Drang zur Lektüre. Rüder urteilte Österreichs Großschriftsteller Stefan Zweig in seiner 1941 verfassten Biografie „Die Welt von Gestern“: „Franz Joseph hat in seinen mehr als 80 Jahren nie ein Buch außer dem Militärschematismus gelesen oder auch nur in die Hand genommen. Gegen Musik zeigte er sogar eine ausgesprochene Antipathie.“

Franz Josephs Mutter, die bayerische Erzherzogin Sophie, die von vielen Autoren als Hauptschuldige für die intellektuelle Enge und die emotionale Verkürzung ihres Sohnes gesehen wird, nahm tatsächlich starken Einfluss auf die Erziehung Franz Josephs, weil ihr klar war, dass ihr liebevoller, aber talentloser Mann Franz Karl nie seinem kinderlosen Bruder Ferdinand auf dem Thron folgen würde. Der Nächste war dann ihr Franzl.

So kam es am Ende des Revolutionsjahrs 1848 auch. In Wien waren im März zuerst die Studenten aufgestanden, dann die Bürger und schließlich die entrechteten Arbeiter. Im Oktober wurde die Revolution niederkartätscht, da saß die kaiserliche Familie im sicheren Olmütz. Feldmarschall Josef Wenzel Radetzky schlug den Aufstand im österreichisch besetzten Mailand nieder. Franz Grillparzer besang jubelnd den greisen Militär: „Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich/ in Deinem Lager ist Österreich.“ Der Spruch ziert noch heute Radetzkys Denkmal vor dem Regierungsgebäude am Stubenring.

Franz Joseph, das zeigte sich schon am Beginn seiner Regierungszeit, stand noch mit einem Bein im Mittelalter.

Dass es mit Kaiser Ferdinand nun nicht mehr ging, war allen klar, vor allem die Fürsten Schwarzenberg und Windisch-Graetz (Letzterer hatte den Aufstand in Wien niedergeschlagen) drängten darauf, den 18-jährigen Franz Joseph zum Kaiser zu machen. Am 2. Dezember 1848 wurde er in Olmütz gekrönt. „Gott segne dich, sei nur recht brav“, gab ihm sein schlichter Onkel Ferdinand mit auf den Weg. In seiner ersten Botschaft dankte Franz Joseph der Armee für die „Bezähmung der Flammen des Aufruhrs in der durch Treulosigkeit verführten Residenz.“

In Ungarn erreichte die von Adeligen getragene nationale Revolution erst im April 1849 ihren Höhepunkt: Ungarn sagte sich vom Haus Habsburg los und rief den Kleinadeligen Lajos Kossuth zum Präsidialregenten aus. Vom sicheren Olmütz aus bat der 18-jährige Kaiser am 1. Mai 1849 den russischen Zaren um Hilfe. Nikolaus I. ließ daraufhin 200.000 Soldaten in Ungarn wüten. Im August kapitulierten die Revolutionäre. Kossuth gelang die Flucht ins Ausland.

55.000 Ungarn starben in den Kämpfen, 120 Anführer wurden auf Befehl Franz Josephs hingerichtet – auch Premierminister Lajos Graf Batthyány.

Hunderte Menschen wurden öffentlich ausgepeitscht, darunter viele Frauen. Franz Joseph, das zeigte sich schon am Beginn seiner Regierungszeit, stand noch mit einem Bein im Mittelalter. Seine Herrschaft glaubte er von Gott selbst in seine Hände gelegt, jeder Zweifel daran war somit Frevel. Die Französische Revolution war für die Habsburger nicht bloß deshalb Quelle allen Verderbens, weil Franz Josephs Urgroßtante Marie Antoinette dabei ihr Haupt verlor: Es war für sie einfach unvorstellbar, dass der Pöbel das Gottesgnadentum infrage stellte. Franz Josephs Großvater Franz war noch Kaiser des alten, freilich höchst theoretischen „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ gewesen. Franz Josephs Feldmarschall Radetzky hatte als junger Mann noch in den Türkenkriegen gefochten. Bis 1868 wurden Mörder in Wien öffentlich exekutiert. Der ungarische Schneider János Libényi, der 1853 beim Kärntner Tor ein Attentat auf den jungen Monarchen versucht hatte, wurde mit Stockstreichen gefoltert und – als er dennoch keine Komplizen nannte – bei der „Spinnerin am Kreuz“ am Wienerberg gehenkt. An dieser Stelle hatte man schon im Mittelalter Delinquenten gerädert und gevierteilt.

Die Folgen dieser Versäumnisse in der Bündnispolitik zeigten sich wenig später.

Eilig fuhr Franz Joseph denn auch alle Reste der 48er-Revolution zurück. Die bürgerlichen Grundrechte wurden im Silvesterpatent 1851 wieder aufgehoben, die Regierung unterstand ausschließlich dem Kaiser. „Alle Welt schwimmt im Glück über die Dekrete“, schrieb ihm seine Mutter.

Franz Joseph hatte freilich ein finanziell schwer angeschlagenes Reich übernommen. Zwei Drittel der Ausgaben entfielen auf das Militär. Die gewaltigen Staatsschulden behinderten die anderswo längst laufende Industrialisierung und den Ausbau der Infrastruktur. 40 Prozent der Staatseinnahmen gingen für den Zinsendienst auf.

Mag sein, das sich Franz Joseph wegen der ernsten Finanzlage nicht engagierte, als Russland 1853 im Krimkrieg auf die Osmanen traf, wobei England und Frankreich die Türken unterstützten. Mehr noch: Der Kaiser zeigte sich gegenüber dem Zaren nicht nur durch seine Neutralität undankbar, sondern besetzte auch noch die Donaufürstentümer Moldau und Walachei, ein Affront für Russland. Damit saß Österreich zwischen allen Stühlen.

Die Folgen dieser Versäumnisse in der Bündnispolitik zeigten sich wenig später: Die enttäuschten Russen näherten sich Preußen an, Frankreich unterstützte die Einigungsbestrebungen Italiens, denen zahlreiche habsburgische Besitzungen im Weg standen: die Lombardei, Venetien, Triest, der Trentino, Mantua und die von einer Nebenlinien beherrschte Toskana.

Durch zahlreiche Reisen und Kuraufenthalte legte Elisabeth Distanz zwischen sich und den Kaiser.

1859 schlug Österreich gegen das von Frankreich unterstützte Königreich Sardinien-Piemont los, die Speerspitze des „Risorgimento“. Der Feldzug endete im Juni in Solferino mit einer verheerenden Niederlage für den Kaiser. 22.350 tote Österreicher und 18.000 gefallene Franzosen und Piemontesen blieben am Schlachtfeld zurück. Den Schweizer Geschäftsmann Henri Dunant, der Zeuge des Gemetzels geworden war, schockierten die Ereignisse derart, dass er eine Hilfsorganisation namens „Rotes Kreuz“ gründete. Die politische und persönliche Krise nach der Niederlage – Österreich verlor die Lombardei – war eine erste schwere Belastung für Franz Josephs Ehe.

Der junge Kaiser hatte 1854 seine 16-jährige Cousine Elisabeth geheiratet, die Tochter der Schwester seiner Mutter, eine Wittelsbacherin. Die Sache lief von Beginn an unrund. Das junge Mädchen hatte die steife Etikette und das pompöse Leben in Schönbrunn offenbar schwer unterschätzt. Schon während der Gratulation des Hochadels lief sie an ihrem Hochzeitstag weinend davon. Die „Copulatio carnalis“ in der Hochzeitsnacht, die nach dem Kirchenrecht die Ehe erst gültig macht, fand erst nach drei Tagen statt, wobei Elisabeth ständig intimen Befragungen durch Mutter und Tante ausgesetzt war.

Elisabeth gebar dem Kaiser in den vier Jahren nach der Hochzeit drei Kinder und 1868 die Nachzüglerin Marie Valerie. Dann war Schluss. Durch zahlreiche Reisen und Kuraufenthalte legte Elisabeth Distanz zwischen sich und den Kaiser, an Sex dachte sie offenbar nur mit Schaudern, wie ein Gedicht aus ihrer Feder – da war sie Mitte 40 – deutlich macht:

„Nun staune nicht, wenn beim Verrichten/ nach altem Patriarchenbrauch/ der legitimen Ehepflichten/ dich streift ein eisigkalter Hauch.“

Dennoch ging das Kaiserpaar einigermaßen liebevoll und bisweilen sogar frivol miteinander um, wie viele Briefe zeigen. „Hürchen hab ich recht viele und recht hübsche gesehen“, berichtete Franz Joseph Elisabeth 1867 von der Weltausstellung in Paris: „Ich denke aber nur an Dich mein Engel, Du kannst ruhig sein.“

In jenem Jahr hatte ihre Ehe einen „politischen Höhepunkt“ gefunden – den Ausgleich mit dem störrischen Ungarn, das dadurch viele nationale Rechte bekam: Nur das Finanz-, Außen- und Kriegsministerium hatte Ungarn mit „Cisleithanien“ noch gemeinsam. Die in Ungarn überaus beliebte Elisabeth hatte nicht wenig zu dieser Einigung beigetragen. Franz Joseph war nach der schweren Niederlage gegen Preußen bei Königgrätz im Jahr zuvor zu diesem Zugeständnis gezwungen.

44.000 Mann waren in Königgrätz auf österreichischer Seite gefallen, zwei Mal so viel wie in Solferino. Jetzt ging auch Venetien verloren. „Ich bin sehr melancholisch, eigentlich abgestumpft“, schrieb Franz Joseph an Sisi.

Die Königskrönung in Ungarn brachte seiner Beziehung zu seiner Frau ein letztes Hoch: Ein Jahr später wurde seine Tochter Marie Valerie geboren.

Der explosionsartigen Entwicklung der modernen kapitalistischen Wirtschaft stand die völlig verzopfte Welt bei Hofe gegenüber.

Die ebenfalls 1867 unter dem Druck der Ereignisse von Königgrätz beschlossene „Dezemberverfassung“ brachte Bewegung in Wirtschaft und Gesellschaft. Während die neue Vereinsfreiheit zum Entstehen politischer Parteien führte, bewirkte die größere Rechtssicherheit einen ökonomischen Aufschwung: Die restriktive Geldpolitik wurde aufgegeben, das Schienennetz der Monarchie zwischen 1866 und 1873 verdoppelt. Die Bau- und Eisenindustrie profitierte davon besonders. Die Fertigstellung der Wiener Ringstraße war das Symbol für den Aufstieg. 1867 wurde überdies eine besonders gute Ernte eingefahren. Arbeitskräfte gab es genug. Von Böhmen, Mähren und auch entlegeneren Teilen der Monarchie wanderten Arbeiter zu, außerdem konnten es sich viele Bauern nach ihrer 1849 erfolgten „Befreiung“ nicht leisten, ihren bisherigen Grundherren ein Drittel des Schätzwertes zu bezahlen. Sie wanderten in die Städte ab.

Hauptprofiteur der Konjunktur war das liberale Großbürgertum. Das in Armut vegetierende städtische Proletariat profitierte bestenfalls von den Infrastrukturmaßnahmen wie etwa der Hochquellwasserleitung, der Donauregulierung und von dem besseren Bahnnetz. Der explosionsartigen Entwicklung der modernen kapitalistischen Wirtschaft stand die völlig verzopfte Welt bei Hofe gegenüber. Besucher mussten nach Audienzen den Raum nach wie vor rückwärts gehend verlassen, einen Händedruck gab es nie. General Albert von Margutti erzählte später, der Kaiser hätte ihm in den 16 Jahren, in denen er ihm als Adjutant diente, nur ein Mal die Hand geschüttelt.

Zu seinen Kindern verhielt sich Franz Joseph nicht weniger kühl. Seine jüngste Tochter Marie Valerie durfte mit 16 zum ersten Mal ins Arbeitszimmer des Kaisers und mit ihm frühstücken. „Das war zu viel Seligkeit“, schwärmte sie danach. Bei den wöchentlichen Diners, sie dauerten 45 Minuten, hatten sowohl seine Kinder als auch die anwesenden Erzherzöge – fast durchwegs Franz Josephs Neffen – den Kaiser mit „Eure Majestät“ anzusprechen. „Er ging durch unser Leben, ein fühlloser Lenker …“ schrieb Erzherzog Leopold Ferdinand aus der Toskana-Linie später.

Besonders Franz Josephs 1858 geborener Sohn Rudolf litt unter der Unnahbarkeit seines Vaters. So wie er 30 Jahre zuvor erzogen wurde, wollte der Kaiser auch Rudolf erziehen lassen: von erzreaktionären Geistlichen und Offizieren. Der Plan scheiterte am entschlossenen Widerstand Elisabeths. Anders als sein Vater entwickelte Rudolf großes Interesse an Wissenschaft und Politik, sah die Probleme des Reiches – etwa die nationalen Sehnsüchte der Slawen – deutlicher als dieser und hielt den Kaiser für „klerikal, schroff und misstrauisch“.

Über Politik sprach Franz Joseph mit dem Thronfolger nie, in Entscheidungen bezog er ihn nicht ein.

Als Rudolf ins heiratsfähige Alter kam, hatte er nur drei standesgemäße Prinzessinnen aus dem europäischen Hochadel zur Auswahl. Er entschied sich 1881 für die Belgierin Stephanie. Mangels sinnvoller Aufgabe bei Hof hatte er sich da schon einem gehobenen Lotterleben hingegeben – Alkohol und Morphium inklusive – und sich eine Geschlechtskrankheit geholt, mit der er auch seine ungeliebte Frau ansteckte, die daraufhin unfruchtbar wurde. Die beiden hatten damals schon eine Tochter, einen Thronfolger hätten sie nicht mehr zeugen können.

Die Frage stellte sich nicht, weil Rudolf 1889 seine 17-jährige Geliebte Mary Vetsera und danach sich selbst erschoss. Der Kaiser war vom Verlust des Sohnes natürlich schwer getroffen. Moralisch hatte er kein Recht, dessen Lebenswandel zu verurteilen. Franz Joseph war schon 1875 im öffentlich zugänglichen Teil des Schönbrunner Schlosspark auf die damals 15-jährige Korbmachertochter Anna Nahowski getroffen, die er auch ansprach: „Sie gehen aber fleißig spazieren.“ In der Folge vereinbarte der Kaiser Treffen mit der jungen Frau auf einer Parkbank und ging dabei immer entschlossener vor. Nach einigen Monaten küsste der 45-jährige Monarch die junge Frau „bis zum Ersticken“, wie sie später erzählte. Franz Joseph organisierte für sie eine Wohnung in der Schönbrunner Allee und später eine Villa in der Maxingstraße, die er durch eine Tür in der Schlossmauer diskret erreichen konnte. Der Sinn seiner Besuche geht aus einem Brief an Anna hervor: „Wenn ich komme werden Sie das lästige Mieder nicht haben, wenn Sie mich lieb haben erwarten Sie mich im Bett.“ Ein Ergebnis dieser frühmorgendlichen Besuche soll Nahowskis Tochter Helene gewesen sein, die spätere Frau des Komponisten Alban Berg.

Während der folgenden Balkankriege, an denen Österreich nicht teilnahm, stieg der Einfluss der Militärs.

Die Beziehung dauerte bis 1884, als Anna mit Zustimmung des Kaisers heiratete. Der hatte da freilich ohnehin schon die von seiner Frau Elisabeth vermittelte Bekanntschaft mit der Schauspielerin Katharina Schratt gemacht. Nahowski wurde großzügig entschädigt: Neben der Villa in der Maxingstraße bekam Sie vom Kaiser 200.000 Gulden „Abfertigung“ (nach heutiger Kaufkraft etwa drei Millionen Euro). 50.000 Gulden hatte sie schon in den Jahren zuvor bekommen.

Denn der angeblich so spartanische Kaiser war alles andere als sparsam: Seiner Elisabeth hatte er auf Korfu das prunkvolle „Achilleon“ gebaut und in Wien- Lainz die nicht weniger prächtige Hermesvilla. Sisis jährliche Apanage betrug 300.000 Gulden. Die Schratt war besonders teuer: Sie bezog je eine Villa in Wien-Hietzing und Ischl, 1899 macht er der leidenschaftlichen Spielerin ein großzügiges Geldgeschenk und verfügte, dass ihr nach seinem Tod 500.000 Gulden zu übergeben seien. Von ihren Reisen schickte die Schratt dem Kaiser kleine Heiligenbilder, die dieser auf seinem Ofenschirm applizierte. Dass sie es neun Jahre lang nebenher mit ­einem Grafen Wilczek trieb, passt ins Bild.

Kaiserin Elisabeth war selten in Wien. Ihre Ehe war seit dem Tod Rudolfs nur noch eine Qual, wie Tochter Marie Valerie in ihrem Tagebuch vermerkt: „Das Zusammensein mit den Eltern ist fortwährend aus kleinen, aber unheimlich aufreibenden Peinlichkeiten zusammengesetzt.“ Sisi hatte schwere psychische Probleme und wog bisweilen nur noch 39 Kilogramm. Besorgt reiste Franz Joseph ihr in ihren letzten Lebensjahren manchmal hinterher, und man verbrachte sogar einige harmonische Wochen an der Französischen Riviera. Vom gewaltsamen Tod seiner Frau im September 1898 war der Kaiser schwer getroffen: „Ich habe soviel Unglück in Allem,“ sagte er laut deren Tagebuch zu seiner Tochter.

Einmal noch schwang er sich zur Tat auf, als er 1906 gegen den Willen des Adels auf Anraten von Ministerpräsident Beck das allgemeine, gleiche Wahlrecht für Männer einführte – in der Hoffnung, damit die nationalen Unruhen politisch zu kanalisieren. Mag sein, dass er auch da wieder nur auf äußeren Druck reagierte: Im Jahr zuvor hatte es in Russland eine Revolution gegeben, und Revolutionen fürchtete Franz Joseph mehr als alles andere.

Während der folgenden Balkankriege, an denen Österreich nicht teilnahm, stieg der Einfluss der Militärs. Vor allem Generalstabschef Franz Conrad, geadelter von Hötzendorf, ein Offizierssohn aus Wien-Penzing, riet ständig zum Losschlagen gegen Serbien und Italien, das hartnäckig den Trentino forderte.

Conrads Kriegspartei hatte ihren härtesten Widersacher im Neffen des Kaisers, Thronfolger Franz Ferdinand, der die Gefahr eines Eingreifens Russlands an der Seite Serbiens richtig einschätzte. Nach dem Attentat von Sarajevo war der Weg in den Krieg vorgezeichnet. Franz Joseph machte von Beginn an klar, dass er den Beschlüssen der Regierung und des Militärs nichts entgegensetzen werde. Die Kriegserklärung unterschrieb er innerhalb weniger Minuten in Ischl. Als er sich im November 1916 zum Sterben legte, glaubte er selbst nicht mehr, dass dieser Krieg zu gewinnen sei.

Im Spalier des Trauerzugs stand im Dezember 1916 der sechsjährige Bruno Kreisky. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.