Bundeskanzler Karl Nehammer
Nach dem Video

Frust, Verteidigung und Sorge: Protokolle aus einer verunsicherten Partei

Teilzeit, Kinderarmut, Sozialpartnerschaft: Das Video von Bundeskanzler Karl Nehammer beschäftigt auch seine eigene Partei. Ein profil-Rundruf.

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Die Erfolge durften in der ÖVP andere verkünden: Finanzminister Magnus Brunner präsentierte den  Finanzausgleich, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler  die Informationsfreiheit. Und Parteichef und Kanzler Karl Nehammer? Belegte Platz 1 in der Medienpräsenz mit den millionenfach angesehenen Video-Bildern, wo er über Frauen in Teilzeit, die mehr arbeiten sollten, über Kinder, die Burger essen könnten, und Blockaden durch die Sozialpartnerschaft wettert.

Die aktuelle profil-Umfrage zeigt breites Unbehagen mit Nehammers Aussagen. profil hörte sich in der ÖVP um, von Wien bis Vorarlberg, von Bundes- bis zur Regionalebene. Wortprotokolle zwischen Sorge, Frust und Verteidigung.

„Verwundert über Angriff auf die Sozialpartnerschaft“

Bernhard Heinzle, 47, AK-Präsident in Vorarlberg und Mitglied der Christgewerkschaft und des ÖAAB

„Ich bin verwundert über die Aussagen und den Angriff auf die Sozialpartnerschaft. Diese Grundhaltung der Politik ist schon eher befremdlich. Die Sozialpartnerschaft hat in Österreich immer funktioniert. Gerade in der Wirtschaftskrise und in der Coronakrise haben die Sozialpartner zu Lösungen beigetragen. Dass sie jetzt so abwertend behandelt werden, ist einfach nur verwunderlich. Bei aller Emotion, die jeder haben darf: Wir sollten schon auch eine Grundhaltung haben und zeigen. So ein Stammtischgeplänkel ist meiner Meinung nach nicht angebracht. Vor allem, wenn man weiß, wie die Sozialpartnerschaft funktioniert und wie viele Menschen dahinterstehen, die sich Mühe geben, das Land nach vorn zu bringen, denkt man sich: Nein, das kann es ja nicht sein.“

„Nehammer praktiziert das Gegenteil von Message Control“

Lukas Mandl, 44, saß im Landtag Niederösterreich, seit 2017 Abgeordneter im EU-Parlament

„Ich kann die Aufregung über das Video nachvollziehen, sie entspricht der Medienlogik – bezieht sich aber zu viel auf sachfremde Aspekte. Man sieht im Video, dass Bundeskanzler Nehammer leidenschaftlich argumentiert. Er will nicht mit der Autorität des Kanzlers Fakten schaffen, er argumentiert. Nehammer praktiziert das Gegenteil von Message Control, weil er gern in Diskurs tritt. Inhaltlich hält er im Video ein Plädoyer für Eigenverantwortung. Ein guter Regierungschef wünscht Wohlstand für alle, dazu muss man ehrlich sagen, dass mehr Wohlstand nicht durch weniger Arbeit entsteht, sondern durch mehr Arbeit.

Nehammer hat die Sozialpartnerschaft nicht infrage gestellt, sondern händeringend festgestellt, dass man die Sozialpartnerschaft beim Thema Arbeitskräftemangel einbeziehen muss. Alles andere sind absichtliche Fehlinterpretationen.“

„Abkehr von christlich sozialen Werten“

Beate Palfrader, 65, Landesrätin in Tirol von 2008 bis 2022, nun Leiterin Theaterverband Tirol

„Für mich verstärkt sich mit dem Video der Eindruck, den ich seit Jahren von der ÖVP habe: Sie entfernt sich von christlich-sozialen Werten. Mit Themen wie Kinderarmut oder Frauenbeschäftigung sollte sich eine christlich-soziale Partei intensiv beschäftigen. Ich habe zu dieser Abkehr von christlich-sozialen Werten immer wieder klar Stellung bezogen, das hat mich in der Partei nicht zu Everybody’s Darling gemacht. Ich wundere mich, dass aktuelle Entscheidungsträger kaum Kommentare abgeben. Dabei wäre innerparteiliche Diskussion darüber sehr wichtig, gerade weil die Aufregung groß ist. Ich bin keine Entscheidungsträgerin mehr, ich habe nicht mehr kandidiert, weil man mir innerparteilich nicht immer Rosen gestreut hat und ich oft einmal mit meinen Meinungen allein war, etwa beim Thema Flüchtlinge.“

„Kernanliegen der Mitte angesprochen“

Bettina Bernhart, 46, Bürgermeisterin von Windhaag/ Perg in Oberösterreich, Landesgeschäftsführerin ÖAAB

„Über die Wortwahl lässt sich immer streiten. Der Bundeskanzler nennt jedoch klar beim Namen, was die Mehrheit in Österreich beschäftigt. Mit dem Einfordern von Leistungsgerechtigkeit und dem Hinweis auf Fürsorgepflichten spricht er vielen aus der Seele. Die künstliche Aufregung ist gesteuert und wohl ein von der SPÖ gesetztes Ablenkungsmanöver. Der Bundeskanzler spricht mit Eigenverantwortung, Arbeit und Leistung die Kernanliegen der ÖVP und der gesellschaftlichen Mitte an. Das sind auch seit Jahrzehnten die Stützen von Staat und Sozialstaat. Daraus entstehen Zusammenhalt und sozialer Ausgleich, um auch Kinderarmut zu bekämpfen.“

„Was wäre mit einem Projekt gesundes, warmes, günstiges Essen für alle Kinder?“

Kurt Fischer, 60, gelernter Philosophie-Lehrer, seit 2010 Bürgermeisterin seiner Vorarlberger Heimatgemeinde Lustenau

„Dieses Video ist symptomatisch für den Zustand der politischen Kultur. Mich hat es an das Buch von Bernhard Pörksen „Die große Gereiztheit“ erinnert, weil die politische Debatte permanent überreizt ist. Es überwiegt extreme Politisierung ohne politische Folgen. Die Tonalität des Videos passt zu manchen Chats aus der Ära Kurz. Ich erinnere etwa an die Töne gegenüber der Kirche. Von manchen dieser türkisen Haltungen hat man sich in der ÖVP zu wenig distanziert. Von der Gereiztheit profitieren Parteien, die immer mit Angst spielen, daher mache ich als Reaktion auf das Video bewusst einen konstruktiven Vorschlag: Jeden Tag, wenn ich in das Rathaus gehe, sehe ich Menschen, die von der Teuerung massiv betroffen sind, Probleme mit Mieten und Lebenshaltungskosten haben. Die Bundesregierung hat da viel gemacht – aber was wäre mit einem Projekt gesundes, warmes, günstiges Essen für alle Kinder? Wir haben die „Esskultur Lustenau“: gesundes, warmes Essen, frisch gekocht, hoher Bioanteil, und zwar aus der Region, für Kindergärten, Schulen, Senioren. Die Nachfrage ist groß, wir bauen gerade eine große Küche. Dieses Essen kostet pro Tag 5 Euro bei uns, die Gemeinde und das Land unterstützen.

Solche und ähnliche Projekte gibt es in zahlreichen Gemeinden, nicht nur in Vorarlberg. Die Bundespolitik könnte diesen Fleckerlteppich beenden. Wenn sie nicht nur überreizt das Thema warmes Essen anspricht, sondern nach Lösungen sucht, dann könnte sie um 3,50 Euro, den Preis eines ungesunden Burgers mit Pommes, jedem Kind gesundes, warmes Essen anbieten. Für Sozialhilfe-Empfänger vielleicht um 1,40 Euro. Ich glaube, dafür gäbe es hohen Bedarf: Bei uns in Lustenau nimmt jedes vierte Volksschulkind an „Esskultur“ teil.

Für so ein Großprojekt gesundes, günstiges Essen für alle Kinder könnte man eine breite Koalition der konstruktiven Kräfte suchen, nach dem Motto: Machen statt schimpfen. Zusatzeffekt: Die regionale Landwirtschaft würde aufblühen, ganz ohne Kitsch.“

„Zeugt von einem noch antiquierten Frauenbild“

Heidi Glück, 60, Kommunikationsberaterin und frühere Pressesprecherin von ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel

„Ich merke, dass das Video breit besprochen wird, weil mich viele Menschen darauf ansprechen. Die Aussagen von Kanzler Nehammer zur Teilzeit-Arbeit sind ein Widerspruch zur gängigen Politik der ÖVP: Sie hat immer Wahlfreiheit propagiert und dafür plädiert, dass Frauen für die Kinderbetreuung und den Haushalt zuständig sind. Frauen dann zu unterstellen, dass sie nicht fleißig genug sind und zu wenig zum Bruttoinlandsprodukt beitragen, ist für sie sicher nicht verständlich. Vielmehr ist es irritierend und zeugt von einem immer noch antiquierten Frauenbild. Es gibt viele Frauen, die kein anderes Angebot erhalten als einen Teilzeit-Job. Dazu kommt das noch immer zu geringe Angebot der Kinderbetreuung. Und wenn es sich für einige nicht auszahlt, statt Teilzeit doch Vollzeit zu arbeiten, weil nicht viel mehr Geld übrig bleibt, kann man das nicht den Frauen vorwerfen. Das ist ein Problem der Politik.

Die Aussagen über den Burger waren gegen SPÖ-Chef Babler gerichtet. Er hat ja behauptet, einige Kinder bekämen in Österreich kein warmes Mittagessen. Wenn ein Vertreter einer anderen Partei de facto unterstellt, dass es massive Kinderarmut im Land gibt, verstehe ich Nehammers Ärger. Wir geben ein Drittel unseres BIP für soziale Unterstützung aus. Allerdings müsste Nehammer mit Fakten dagegenhalten und aufzählen, was die Regierung unternommen hat. Wenn es trotz aller Unterstützungsmaßnahmen gegen die Teuerung große Unzufriedenheit in der Bevölkerung gibt, liegt es entweder an falscher Kommunikation oder an fehlendem Vertrauen in die Regierung.

Viele Funktionäre der ÖVP sind in der Sozialpartnerschaft verankert. Ich glaube, dass sie die Aussagen im Video als ungerecht empfinden. Es besteht die Gefahr, dass sie sich von  Nehammer abwenden, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Arbeit nicht entsprechend gewürdigt wird. Das Video ist jedenfalls nicht vertrauensfördernd – vor allem nicht ein Jahr vor der Nationalratswahl, wo man die Funktionäre mobilisieren und motivieren sollte.“

„Polemik richtet sich nicht gegen Frauen“

Gudrun Kugler, 46, ÖVP-Menschenrechtssprecherin und Nationalratsabgeordnete

„Ich glaube, dass Bundeskanzler Karl Nehammer recht hat, meine aber, dass seine Aussagen falsch ausgelegt worden sind. Er spricht sich gegen einen politischen Diskurs aus, der Österreich als schlechtes Land darstellen will, der Armut für Stimmenfang instrumentalisiert und der auf einem Staatsverständnis basiert, in dem Leistung und Eigenbeitrag nichts wert sind.

Nehammer wähnt sich eben im Freundeskreis, und die Polemik richtet sich nicht gegen Frauen in Teilzeit und Kinder, sondern gegen diesen Diskurs, den vor allem die SPÖ führt, indem sie, wie im Sora-Strategiepapier steht, eine depressive Stimmung im Land verbreitet.

Wir stehen hinter der Wahlfreiheit in der Kinderbetreuung, das inkludiert auch die Entscheidung zur Teilzeit. Nehammer spricht im Video aber Menschen an, die aus Lifestyle-Gründen 25 Stunden arbeiten und dann sagen, sie haben zu wenig Geld. In diesem Fall gilt: Jeder ist seines Glückes Schmied.

Der Burger ist als Beispiel für warmes Mittagessen nicht perfekt gewählt, und Nehammer sagt auch nicht, dass man ihn täglich essen sollte. Aber wenn man bewusst einkauft und selbst kocht, kann man sogar noch günstiger als um 1,40 Euro ein gesundes Mittagessen essen. Selbstverständlich bekennen wir uns zum staatlichen sozialen Auffangnetz: Denn die Würde jedes Menschen, egal wie viel er oder sie leistet, ist für mich und die Volkspartei unerlässlich.

Zum Schluss noch zur Sozialpartnerschaft: Sie ist ein hohes Gut, das sieht auch jeder so. Wenn man das Video mit etwas gutem Willen anschaut, dann missversteht man die Aussagen auch nicht.“

„Unbedacht und unnötig“

Barbara Fruhwürth, 58, Vizepräsidentin des katholischen Familienverbands

„Was Karl Nehammer gesagt hat, war unbedacht und unnötig. Es stimmt schon: Österreich hat ein gut ausgebautes Sozialsystem. Trotzdem haben immer mehr Menschen finanzielle Sorgen – gerade Familien mit kleinen oder mehreren Kindern. Ich bin Steuerberaterin und höre sehr oft die Frage: Zahlt es sich für mich überhaupt aus, mehr zu arbeiten? Grundsätzlich zahlt es sich immer aus, wenn man an die Pensionsbeiträge denkt. Aber wenn die Sozialhilfen entfallen, wird es zu einem Problem. Eltern, die sogenannte Care-Arbeit leisten, leisten einen großen Beitrag, sind aber auch auf die Solidarität anderer angewiesen.

Ich bin nicht ÖVP-Mitglied, aber wir als katholischer Familienverband verstehen auch, dass der Arbeitsmarkt gut ausgebildete Frauen haben möchte. Es kann allerdings nicht sein, dass Druck auf junge Familien ausgeübt wird, so schnell wie möglich wieder ins Erwerbsleben einzusteigen. Nehammers Aussagen sind auch deswegen verzichtbar, weil viele gute Maßnahmen umgesetzt wurden: Der Familienbonus wirkt, die automatische Wertanpassung von Familienleistungen ist gekommen.  Was es jetzt noch bräuchte, wäre die Anrechnung der Kindererziehungszeiten für die Pension. Nach dem 4. Geburtsjahr fällt der betreuende Elternteil sehr tief.“

„Polarisierung wird von Medien geschürt“

Hannes Zweytick, 62, Winzer, war zehn Jahre lang ÖVP-Nationalratsabgeordneter und ist heute Bürgermeister von Ehrenhausen an der südsteirischen Weinstraße.

„Ich habe tagtäglich mit Leuten zu tun und den Eindruck, dass die Bevölkerung den Streit um das Video sehr gelassen nimmt, weil derartige Polarisierung dahintersteht. Diese Polarisierung wird auch von Medien geschürt, hier nimmt man sie nicht so ernst. Der Herbst in der Südsteiermark hat andere Prioritäten, das Wetter ist schön, die Weinlese voll im Gange, die Schule hat wieder begonnen, alle haben alle Hände voll zu tun. Darüber reden die Leute. Natürlich ist das Thema Arbeitskräftemangel ein großes Thema, im Tourismus und für die Weinlese ist kaum jemand zu bekommen, alle bräuchten mehr Mitarbeiter.

Den Burger-Sager von Nehammer sehe ich als flapsig. Ich erinnere mich an die Zeit mit dem Wurstsemmel-Sager, beim nächsten Mal sind es dann vielleicht Calamari. Die hohen Kosten für Lebensmittel bewegen die Menschen natürlich, wie generell das teure Leben, es wird auch einen weiteren Banken-Gipfel geben müssen. Aber die Regierung hat viele Entlastungsmaßnahmen gesetzt.“

„Die Gedanken sind frei“

Matthias Arth, 23, Vorsitzender des Cartellverbands der katholischen Studentenverbindungen (Couleurname Arthus) und ÖVP-Bezirksrat in Wien-Donaustadt

„Ich kenne Karl Nehammer als integren Menschen und Familienvater. Familien zu unterstützen und Leistung zu belohnen, das entspricht auch unserem Weltbild. Die Art und Weise, wie Medien und Politik mit freier Meinungsäußerung umgehen, ist für mich allerdings äußerst befremdlich. Die Gedanken sind frei.“

„Politiker stehen ständig in der Öffentlichkeit“

Maria Rauch-Kallat, 74, ehemalige Ministerin in mehreren Regierungen und ÖVP-Generalsekretärin

„Die Aufregung über das Video ist berechtigt, weil Burger als Beispiel für gesunde Kinderernährung nicht unbedingt ideal gewählt wurden. Es ist ein zusammengeschnittenes Video, aus zusammengeschnittenem Material kann man besonders gut Provokation erzeugen. Die Opposition und alle anderen Parteien schlachten das Video aus, für sie ist es ein gefundenes Fressen.

Jeder Politiker, jede Politikerin muss sich bewusst sein, dass sie mit jedem Satz, mit jedem Auftritt ständig in der Öffentlichkeit stehen und vom Inhalt bis zum Aussehen alles kritisch beleuchtet wird, bei Frauen ganz besonders.“

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin