Gastkommentar von Renate Brauner: Achtung SPÖ-Experten!
Die Zeiten ändern sich. Alles ist sehr kompliziert geworden, darauf hat bereits Fred Sinowatz hingewiesen. Doch während der ehemalige SPÖ-Vorsitzende und Bundeskanzler damit im Jahr 1983 öffentlich Mut machen wollte, hat Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier mehr als 30 Jahre später in einem profil-Gastkommentar vor allem eine Antwort: Österreich soll geschützt werden, wohl am besten mit einer Mauer rundherum. Die von der Sozialdemokratie angeblich nicht mehr verstandene gesellschaftliche Mitte und gerade auch die Jugend würden das geradezu verlangen. Trump lässt grüßen. Wie es da sein kann, dass es gerade die jungen EuropäerInnen sind, die sich vehement für ein demokratisches Europa mit seinen Möglichkeiten einsetzen, bleibt bei Heinzlmaier leider im Dunkeln.
Österreich sei eben kein Land, wo die Menschen unternehmerische Abenteuer suchen würden, schreibt er. Dahinter steht das romantizierte Ideal einer geordneten Gesellschaft, der – im Übrigen männlich geprägten – Industriegesellschaft der 1970er-Jahre. Ganz so, als könnte oder wollte man das Rad der Geschichte zurückdrehen. Da wird letztendlich eine fortschrittsfeindliche Welt herbeigewünscht, ohne Internet oder EU – alles viel zu kompliziert. Um es kurz zu machen: Ich halte diese kulturpessimistische Einschätzung schlicht für falsch. Gerade die Sozialdemokratie war immer jene politische Kraft, die sowohl die Chancen als auch die Schattenseiten des technischen Fortschritts erkannt und versucht hat, diese Möglichkeiten für gesellschaftliche Verbesserungen zu nutzen.
Sind also unsere Grundsätze in Unordnung? Nein, ich denke nicht. Persönlich wird es, wenn Heinzlmaier der Wiener SPÖ in Anlehnung an Didier Eribon sogar vorwirft, wir würden uns unserer Herkunft schämen und wir würden uns deshalb politisch abwenden. Das ist nicht nur falsch, sondern auch beleidigend. Mich prägt bis heute, dass ich durch die Bildungsreformen von Bruno Kreisky als erstes Kind meiner Familie studieren konnte, weshalb ich mich gemeinsam mit vielen anderen dafür einsetze, dass Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen oder armutsgefährdeten Familien ebenfalls die Chance auf eine gute Ausbildung haben. Nicht umsonst bilden wir in Wien mehr als 5000 Jugendliche in der überbetrieblichen Lehre aus und touren beinahe wöchentlich mit unseren Aus- und Weiterbildungsangeboten durch die nach Heinzelmaier von uns angeblich ignorierten Gemeindebauten.
Will die SPÖ also weiterhin erfolgreich Politik betreiben, dann muss sie sich mit klarer Haltung möglichst breit aufstellen.
Ich kenne auch niemanden in der SPÖ, der glaubt, mit „Bobos“ allein (im Übrigen ein unsäglicher Kampfbegriff!) Mehrheitspartei zu bleiben. Aber auch alleine mit jenen Menschen, die weiterhin in den klassischen ArbeiterInnenberufen tätig sind, wird die SPÖ keine Wahlen mehr gewinnen können. In Wien sind das heute in etwa noch sieben Prozent der Beschäftigten, bei den Frauen sind es rund 1,4 Prozent. Übrigens in hohem Ausmaß Zugewanderte, von denen viele weder in der Meinungsforschung noch bei Wahlen eine Stimme haben.
Wer ernsthaft sucht, der erkennt, dass Benachteiligung und Armutsgefährdung gewandert sind. Ungerechtigkeit findet sich heute an vielen Orten im Erwerbsleben, längst nicht nur bei den unselbstständig Beschäftigten. So verdienen drei von vier Frauen in Ein-Personen-Unternehmen weniger als 1000 Euro netto, und auch bei den Start-ups ist, jenseits der Euphorie, nicht alles eitel Wonne.
Diese viel differenziertere Zusammensetzung unserer Gesellschaft verlangt daher auch differenziertere Antworten. Die eine, alles erklärende, Antwort auf „die Mitte samt dem unteren Gesellschaftsdrittel“ gibt es nicht. Existenzsichernden Mindestlohn braucht es genauso wie soziale Absicherung von EPUs. Will die SPÖ also weiterhin erfolgreich Politik betreiben, dann muss sie sich mit klarer Haltung möglichst breit aufstellen. Daher gibt es auch kein Entweder-oder. Wir müssen im Gemeindebau genauso präsent sein wie bei Start-ups. Wir müssen gemeinsam dort hinschauen und Unterstützung anbieten, wo Benachteiligung und Armutsgefährdung vorhanden sind.
Die Verkürzung auf eine Polarisierung zwischen „dem Simmeringer Gemeindebau“ und einer „Bobo-Politik“ mag vielleicht mit dem Ziel der Punzierung einer Gruppe Sinn machen. Wissenschaftlich analytisch und eine zukunftsweisende politische Strategie ist es jedenfalls nicht. Und während sich manche „Experten“ den Kopf über (un)mögliche Koalitionsvarianten zerbrechen, arbeiten wir in der SPÖ tatsächlich intensiv daran, dass an unseren Inhalten kein Weg vorbeiführt. Das bedeutet nicht, die Augen vor sozialen Realitäten zu verschließen, sondern jenseits von Partikularinteressen den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken. Oder, um mit Bundeskanzler Christian Kern zu sprechen, als SPÖ für jene 95 Prozent einzustehen, die sich jeden Tag anstrengen müssen, um ihre Familie zu ernähren. Allen, die sich bereits freuen, kann ich jedenfalls versichern: Abgesänge auf die Sozialdemokratie sind nicht nur verfrüht, sondern sie ist heute sogar wichtiger denn je.
Renate Brauner, Volkswirtin, ist Wiener Stadträtin für Finanzen, Wirtschaft und Internationales sowie stellvertretende Vorsitzende der SPÖ