Die Grazerin Silvia Knoll hilft in Nickelsdorf. Die abstrakte Flüchtlingsdebatte hat für sie ein Gesicht bekommen.

Generation Hauptbahnhof: Wie die Flüchtlingshilfe Menschen politisiert

Generation Hauptbahnhof: Wie die Flüchtlingshilfe Menschen politisiert

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Ein Mädchen aus Syrien, das auf den Schoß einer Flüchtlingshelferin klettert und Geschichten auf Arabisch erzählt. Ein Bub, der auf dem Steinboden liegt und einen Teddy an sich drückt – er hat ihn gerade geschenkt bekommen. Ein stämmiger Mann, der dank eines geborgten Handys erstmals seit Langem die Stimme seiner Frau hört – und weint.

Szenen von den heimischen Bahnhöfen; Szenen, die so manchen Durchreisenden spontan zum Flüchtlingshelfer machten. „Ich hab das Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben etwas Sinnvolles zu tun“, sagt die 18-jährige Sophie Strohal, die seit Wochen am Westbahnhof mitanpackt.

Das Thema Flüchtlinge polarisiert. Ein Teil der Bevölkerung ist skeptisch bis ablehnend. Und dann gibt es das andere Österreich: das auf den Bahnhöfen steht und Suppe austeilt, das in der Nacht in den Asylnotunterkünften Decken sortiert, Teddybären spendet und auf Facebook Hilfeaufrufe postet.

Beginnt hier die Politisierung von Tausenden – eine Art zweites Hainburg, das den Teilnehmern als Wendepunkt in ihrem Leben in Erinnerung bleibt?

Der Grad an Selbstaufopferung, Emotion und Zeitaufwand mag variieren, diese Erlebnisse wirken sich aber auf die Helferschar aus. Und diese ist beachtlich. Allein bei der Caritas wirkten in ganz Österreich 6000 Menschen mit – und noch mehr brachten Sachspenden oder selbstgemachtes Essen. Am Wiener Hauptbahnhof teilten 2500 Menschen Suppen aus, versorgten Flüchtlinge mit Decken oder wuschen die Wäsche der Gestrandeten. 40.000 Menschen versahen „Train of Hope“, die Internet-Drehschreibe der Hauptbahnhof-Helfer, mit einem Like.

Nickelsdorf, Salzburger Bahnhof, steirische Schwarzlhalle, Wiener Dusika-Stadion, Westbahnhof – lauter Orte, wo eine neue Generation an Helfern das Heft des Handelns an sich gerissen hat. Wie wird ihr Einsatz Österreich prägen? Und wie verändert ihr Einsatz sie selbst? Beginnt hier die Politisierung von Tausenden – eine Art zweites Hainburg, das den Teilnehmern als Wendepunkt in ihrem Leben in Erinnerung bleibt?

Die beschämte Politik

„Inseln des Neuen im kalten Meer des Status quo“, so beschreibt Freda Meissner-Blau, die Mitgründerin der Grünen, die frühe Ökobewegung, deren Schlüsselmomente die Proteste gegen den Bau des AKW-Zwentendorf und das Kraftwerk in der Hainburger Au waren. Und es ist offensichtlich: 30 Jahre später sind die „Inseln des Neuen“ die Bahnhöfe und Notquartiere, wo Freiwillige die zaudernde Flüchtlingspolitik ersetzen.

„Hätte ich gewartet, bis die Politik reagiert, wäre der Zug abgefahren“, sagt die 22-jährige Mana Samadzadeh, die am Westbahnhof auf Farsi übersetzt. Das trieb die Helfer auf die Bahnhöfe: Wenn der Staat keine großen Lösungen bringt, lösen sie die vielen kleinen Probleme vor Ort – und sei es auch nur mit Brotestreichen.

Die heutigen Helfer verfolgen kein klares politisches Ziel. Sie diskutieren nicht wie die Hörsaalbesetzer der #unibrennt-Bewegung in endlosen Sit-ins über Beistriche in Grundsatzpapieren.

Es gibt Experten, die es bereits als politischen Akt bezeichnen, wenn Bürger die Politik überholen und selbst Transitzonen für Flüchtlinge errichten. „Diese Hilfe kann politisch sein, wenn sie den Staat beschämt“, meint der Politikwissenschafter Roland Roth von der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Die Parallelen zu Hainburg

Im Winter 1984 zelteten Hunderte Öko-Aktivisten wochenlang in der klirrend kalten Hainburger Au – und verhinderten den Bau eines Wasserkraftwerkes. Ein so durchschlagender Erfolg wird den Helfern zwischen Nickelsdorf und Traiskirchen verwehrt bleiben. Sie werden wohl keine Partei gründen und auch die europäische Flüchtlingspolitik nicht entscheidend umkrempeln. Aber ein Stück weit beeinflussen sie bereits Wahlen, wie man in Wien sieht. Auf Plakaten buhlen Rot und Grün darum, wer die bessere Helferpartei ist.

Die heutigen Helfer verfolgen kein klares politisches Ziel. Sie diskutieren nicht wie die Hörsaalbesetzer der #unibrennt-Bewegung in endlosen Sit-ins über Beistriche in Grundsatzpapieren. Sie handeln einfach – und werden dadurch Akteure in der Flüchtlingspolitik. Oder wie die Grazerin Silvia Knoll, 38, sagt: „Wir sahen, die Politik tut nichts. Also sind wir einfach selbst nach Röszke gefahren.“

„Politik in der ersten Person“, so nannte einst Freda Meissner-Blau den privaten Einsatz vieler grüner Gefährten, die in der Au campierten oder sich an Bäume ketteten. Und es ist wohl auch „Politik in der ersten Person“, wenn Freiwillige Camps errichten und von Übersetzungen bis zu medizinischer Erstversorgung staatliche Grundaufgaben ausführen.

Reicht der Atem der Helfer überhaupt über den Uni-Beginn hinaus?

Jugendforscher Philipp Ikrath warnt allerdings davor, die Tragweite solcher „Emotionsschübe“ zu überschätzen. Die Freiwilligen seien, selbst wenn sie das mediale Bild dominieren, eine Minderheit und eine spezielle Schicht: „Wer hilft, kommt meist aus einer gebildeten, urbanen Mittelschicht – unabhängig von Alter oder Generation.“ Das jedoch gilt für alle Bewegungen: Auch in Hainburg saßen nicht Hunderttausende, und viele von ihnen waren Studierende oder Künstler.

Die Generation Hauptbahnhof ist jedenfalls besser dokumentiert – und zwar durch ihr eigenes Zutun. Das sorgt auch für Häme: Lauter Selbstdarsteller seien hier am Werk, die statt ihrer Essensarrangements nun Flüchtlinge fotografieren und posten würden – „Helpporn“ statt „Foodporn“ sozusagen. Helfen als Selbstbefriedung? „Diese Argumente kenne ich. Nur sind diese Bilder und Geschichten auf Facebook für uns extrem wichtig. Das motiviert uns und gibt uns die Kraft, weiterzumachen“, sagt Julian Pöschl, 22, vom Organisationsteam am Westbahnhof.

Der Kampf um den Nachschub

Weitermachen, nur wie lange? Reicht der Atem der Helfer überhaupt über den Uni-Beginn hinaus? „Wenn ich in dem Tempo weitermache, fliege ich durch“, sagt der Architekturstudent Sahir. Viele Helfer sind bereits erschöpft – doch die Caritas meint, noch drohe kein Engpass. „Von 3500 Menschen, die sich in Wien und Traiskirchen für den freiwilligen Dienst gemeldet haben, konnten wir erst 2500 einsetzen“, so Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien. Roland Haller, Einsatzleiter beim Ferry-Dusika-Stadion, rechnet mit neuen Gesichtern, wenn die Studierenden wieder an die Uni strömen. Je größer die Gruppe der Helfer, desto mehr Menschen werden politisiert.

Zum Teil wirkt es jedoch so, als sei es manch arrivierter Hilfsorganisation nur recht, wenn weniger private Samariter kommen: Im Burgenland beispielsweise sind Grabenkämpfe zwischen Rotem Kreuz und Freiwilligen ausgebrochen – weil Profis mehr Ordnung im Chaos wollten und überschüssige Helfer wegschickten. Auf dem Facebook-Account des Roten Kreuz Burgenland klagt eine Bürgerin: „Die Zeiten haben sich geändert. Wir Freiwilligen sind frei und wissen, wie Hilfe aussieht. Ich lade Sie ein, in der Zeit der neuen Freiwilligen anzukommen, die niemanden brauchen, der Ihnen sagt, was zu tun ist.“

Die Helfer wollen nicht, dass ihre „Inseln des Neuen“ von den etablierten Organisationen übernommen werden. Diese Reibung zwischen Alt und Neu ist ein weiteres Indiz für gesellschaftliche Veränderung. Und doch passieren diese Terrainkämpfe subtil, immerhin braucht man einander: weil die freiwilligen Helfer mit nur einem Posting einen ganzen Trupp zusammenstellen können.

Das Ende der Ohnmacht

Die Flüchtlinge kommen und ziehen weiter. Zurück bleiben viele Helfende, die Asylwerber nicht mehr als abstrakte Zahlen sehen können. „Ich merke, wie Freundschaften auseinandergehen. Ich kann nicht mehr hinnehmen, wie manche über Flüchtlinge reden“, so Ursula Holzschuh, 44. Die Wienerin hat durchaus schon Wahlen verstreichen lassen, wenn das Motorradwetter zu gut war. Nach Wochen bei Flüchtlingen ist das anders: „Jetzt sag ich allen: Geht’s wählen!“

Zurück bleibt auch ein neues Selbstbewusstsein vieler Helfer, die Notlager gemeinsam errichtet haben und nun um ihre eigene Macht wissen. Alfons, Biotechnologiestudent, erzählt, wie im Dusika-Stadion binnen einer Nacht eine respektable Facebook-Community aufgebaut wurde: „Ich postete um zwei Uhr nachts, dass ich Helfer brauche. Um fünf Uhr früh waren sie da.“ Dieses Wir-schaffen-das-Gefühl prägt, sagt Alfons: „Jetzt wissen wir, dass wir schnell etwas Großes umsetzen können.“

Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

ist Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.