Ulrike Lunacek, Grüne-Spitzenkandidatin für die Nationalratswahl

Die Grünen: Scharf links mit einer Kandidatin der Mitte?

Die Grünen fahren einen prononcierten Linkskurs, um im Wahlkampf nicht unterzugehen. Wie verträgt sich das mit der Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek, die alles andere als eine Revolutionärin ist?

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Im Wahlkampf ist das erste Blut geflossen. Vergossen ausgerechnet auf Plakaten und Facebook-Sujets der Grünen: "Genug geblutet. Wohnen darf kein Luxus sein." In der Wahlkampagne 2013 setzte die Öko-Partei noch auf Marienkäfer, Affen, Schafe und Sprüche wie "Weniger belämmert als die anderen".

Die Zeiten der augenzwinkernden Feel-good-Kampagnen sind offenkundig vorbei. Und das hat nicht nur mit dem Abgang von Eva Glawischnig als Parteichefin zu tun, sondern mit einem schärferen Linkskurs, der sich strategisch aufdrängt.

Aus heutiger Sicht wird sich der Wahlkampf in der Schlussphase auf den Dreikampf zwischen Christian Kern (SPÖ), Sebastian Kurz (ÖVP) und Heinz-Christian Strache (FPÖ) zuspitzen. Deshalb wollen die Grünen mit ihrer am Samstag offiziell gekürten Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek vor allem mit einer Botschaft durchdringen: "Wir gegen alle." Oder, wie es der neue EU-Delegationsleiter der Grünen, Michel Reimon, formuliert: "Drei sind am rechten Spielfeld, das linke gehört uns. Wir werden uns nicht nur von der FPÖ abgrenzen, sondern auch von allen Parteien, die deren Politik umsetzen."

Reimon gehört zum dezidiert linken Flügel der Partei. Lunacek sieht ihren Platz eher im Mittelfeld. Sie wird zwar mit Verve darauf pochen, dass die Grünen als einzige Partei "sicher nicht blau machen" - nach der vorsichtigen Öffnung der SPÖ zur FPÖ will Lunacek bei traditionellen Rot-Wählern wildern, für die Rot-Blau ein Supergau wäre. Als linke Populistin sieht sich Lunacek aber partout nicht. Sie wäre als weiblicher Che-Guevara-Verschnitt auch nicht authentisch. Ihre Stärke ist ihre ruhige und sachorientierte Art.

Als Vizepräsidentin des EU-Parlaments ist sie es gewohnt, mit allen Parteien zusammenzuarbeiten. "Erfahren", "Vollblutpolitikerin": Befragt man Grüne zu ihrer neuen Frontfrau, fällt das Urteil wertschätzend aus. Es klingt aber auch eine gewisse Distanz durch. Und die könnte - neben der noch fehlenden Bekanntheit - auch das schwache Abschneiden bei den Österreichern erklären. Laut profil-Umfrage (Seite 13) hätten Glawischnig bis vor zwei Jahren zehn und vor ihrem Abgang noch fünf Prozent direkt zur Kanzlerin gewählt. Lunacek wollen im ersten Beliebtheitstest nur zwei Prozent an der Spitze sehen. Ein Startbonus sieht anders aus.

Zu einem Jeremy Corbyn oder Bernie Sanders fehlt ihr das letzte bisschen Charisma

"Zu einem Jeremy Corbyn oder Bernie Sanders fehlt ihr das letzte bisschen Charisma", sagt ein Parteikollege. Der 68-jährige Chef der britischen Labour-Partei und der 75-Jährige parteilose Hoffnungsträger der US-Linken führten vor, wie Politiker im Pensionsalter neue revolutionäre Funken versprühen können - und dass Alter bei Jungen durchaus zieht. Lunacek, mit 60 Jahren älteste Spitzenkandidatin in Österreich, nimmt lieber Anleihen beim 39-jährigen Shootingstar der Franzosen, Emmanuel Macron. "Es geht nicht um links oder rechts. Das hat Macron gezeigt. Es geht um Haltung", sagt sie.

Peter Pilz zieht sich aus Politik zurück

Lunacek stammt aus einem ÖVP-Elternhaus, was sie gern betont. In der Sozialarbeit und Entwicklungspolitik habe sie viel Kontakt mit christlich-sozialen Menschen gehabt. Die zählen vor allem in Tirol, Vorarlberg und Salzburg - in allen drei bürgerlichen Hochburgen sitzen die Grünen mit der ÖVP in der Regierung - nicht selten zum grünen Elektorat. Wie links können die Grünen sein, um den Bogen bei dieser Klientel nicht zu überspannen? Immerhin hat die neue Bundessprecherin, Ingrid Felipe, Anfang 2018 in Tirol eine Landtagswahl zu schlagen.

Wirtschaftspolitisch legen die Grünen bei praktisch jeder sozialdemokratischen Forderung noch ein Schäuflein Klassenkampf drauf: Mietpreisbremse bei 7,50 Euro pro Quadratmeter (geht der SPÖ zu weit); Mindestlohn von 1750 Euro (die SPÖ bietet 1500 Euro); Erbschaftssteuer ab 500.000 Euro (die SPÖ will erst ab einer Million zugreifen); Anhebung des Arbeitslosengeldes von 55 auf 70 Prozent des Letztbezuges (von der SPÖ nicht thematisiert).

Der grüne Mindestlohn würde einen Haarschnitt nur um 1,40 Euro oder Kaffee und Kuchen beim Konditor um 10 Cent verteuern, versichern die Grünen. So richtig zahlen sollten "die oberen 10.000". Allein die Erbschaftssteuer soll vier Milliarden Euro einspielen. Und das wäre, geht es nach dem neuen Grünen Wirtschaftsleitbild, das profil vorliegt, erst der Anfang. Darin wird das längerfristige Ziel einer "Halbierung der Steuerlast auf Arbeit" festgeschrieben. Die Lohnsteuer müsste dafür um 12,7 Milliarden sinken, die Sozialversicherung, die ebenfalls am Lohn hängt, noch um einige Milliarden mehr (siehe auch Seite 26). Dagegen nimmt sich der Plan von Sebastian Kurz, die Abgabenquote um 14 Milliarden Euro zu senken, zurückhaltend aus. Eine Erbschaftsteuer würde nur einen Bruchteil abdecken. Deswegen sollen in der grünen Welt weitere Milliarden durch Steuern auf Vermögen, Wertschöpfung, Ressourcenverbrauch sprudeln. Maschinensteuer, CO2-Steuer, höhere Dieselsteuer, Importzölle auf ökofeindliche Produkte etc. kämen ins Spiel.

Sollen uns doch 80 Prozent für verrückt halten, aber wenigstens kommen wir vor

Im Wahlkampf wird das grüne Wirtschaftsmodell ohnedies kaum Schlagzeilen machen; derzeit dominiert das Migrationsthema die öffentliche Debatte. Konsequent umgesetzt würde die grüne Strategie des "Wir gegen alle" eine Öffnung der Balkan-Route bedeuten. "Sollen uns doch 80 Prozent für verrückt halten, aber wenigstens kommen wir vor", sagt der Sprecher der Wiener Grünen Wirtschaft, Hans Arsenovic. Ein weiteres Meinungsmonopol im Wahlkampf wäre Lunacek sicher. Oder sie ist so radikal wie die Fraktionsführerin der Grünen im EU-Parlament, die Deutsche Ska Keller, und fordert die zwangsweise Umsiedlung ganzer syrischer Kriegsdörfer in EU-Länder wie Lettland, die sich Flüchtlingen verweigern.

Wir sind bei internen Debatten rund um den Islam skeptischer als so manche andere Partei

Doch auch in diesem Punkt gibt sich Lunacek moderat: Sie kritisiert das Wie der Öffnung der Balkanroute, aber nicht mehr das Ob. Auch andere Grüne unterlaufen das Klischee der "Alle rein"-Partei. Bei der aktuellen Debatte um die Schließung muslimischer Kindergärten zeigt man sich gesprächsbereit - aber nur, wenn alle religiösen Einrichtungen davon betroffen wären. Das grüne Urgestein Peter Pilz führt einen privaten Feldzug gegen konservative bis islamistische Türken-Vereine ("Erdoğans Spitzel"). "Wir sind bei internen Debatten rund um den Islam skeptischer als so manche andere Partei. Aber das Klima ist derart vergiftet, dass wir im Zweifelsfall die Rechte der Minderheiten verteidigen. Wer, wenn nicht wir?", sagt der langjährige Sozialsprecher der Partei, Karl Öllinger.

2013 holten die Grünen 12,4 Prozent. Lunacek wird in TV-Duellen alles geben müssen, um die Partei vor einem Absturz weit unter zehn Prozent zu bewahren; aktuell liegt sie bei acht Prozent. Am Tag nach dem Facebook-"Blutbad" postete sie eine bunte Biene mit dem Text: "EU-Umweltaussschuss für Verbot von Pflanzenschutzmitteln, die Bienen schaden. Super Etappensieg." Wohl nur für Bienen.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.