Ibrahim Olgun, Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft

Ibrahim Olgun: "Ich bin nicht Herrgott"

Ibrahim Olgun, der neue Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft, über radikalisierte Jugendliche, falsche Ideen vom Paradies und Kritik an seiner Person.

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INTERVIEW: EDITH MEINHART

profil: Laut einer aktuellen Studie über Jugendliche in Wiener Jugendzentren ist ein Drittel der Muslime radikalisierungsgefährdet. Überrascht Sie das? Olgun: Eigentlich nicht. Es geht hier um Jugendliche aus sozial schwächeren Milieus. Deren Bildungsferne ist problematisch, weil dann die Tendenz zu Intoleranz größer ist. Beim Lesen war ich auch beruhigt.

profil: Was soll daran beruhigend sein? Olgun: Muslime stehen oft unter Generalverdacht. Die Studie lässt keine Pauschalierung zu.

profil: Sie meinen, die befragten Jugendliche gehen Sie nichts an? Olgun: Nein, die Studie ist eine Chance für uns Muslime. Wir möchten in die Betreuung eingebunden werden und den Jugendlichen die richtigen Werte vermitteln.

profil: Was hält Sie davon ab, ihnen den Respekt vor anderen zu vermitteln? Diese Jugendlichen und ihre Eltern gehen auch in Moscheen. Olgun: Wir machen in unseren Moscheen und im islamischen Religionsunterricht mit 600 Lehrern viel Präventionsarbeit. Die Erfahrungen dort mit Jugendlichen sind gewiss auch wertvoll für die Wiener Jugendarbeit.

profil: Woher kommt die Abwertung von Schwulen, Andersgläubigen, Frauen? Olgun: Der Islam ist eine friedliche Religion, wenn man sie richtig versteht und auslegt. Es gibt hier keine Homophobie und keinen Rassismus.

profil: Sollten Imame nicht deutlicher predigen, dass Juden nicht minderwertig sind? Olgun: Ein Imam sagt niemals, Juden sind minderwertig. Wir würden gerne alle 600.000 Muslime in Österreich erreichen. Aber das ist nicht möglich. Ich sehe nicht so viele Jugendliche, die Imamen zuhören. Sie haben andere Räume, Schischa-Lokale zum Beispiel, oder sie schauen sich Videos von Hasspredigern an.

Ich finde weder die liberale noch die konservative Auslegung in Ordnung, weil sie ideologisch gefärbt sein können.

profil: Sie wollen mit Seelsorgern Syrien-Rückkehrer in Haft deradikalisieren. Warum glauben Sie, dass die Jugendlichen Ihnen hier zuhören? Olgun: Aus Erfahrung. Wir haben theologisch ausgebildete ehrenamtliche Mitarbeiter. Wir brauchen mehr hauptamtliche Arbeit, die aber finanziert werden muss.

profil: Die Islamische Glaubensgemeinschaft ist von konservativen und nationalistischen Strömungen geprägt. Das erschwert offene, kritische Debatten. Olgun: Das sagen Sie. Im Koran kommt weder liberal noch konservativ vor - das ist eine Frage der Auslegung. Ich finde weder die liberale noch die konservative Auslegung in Ordnung, weil sie ideologisch gefärbt sein können. Wenn man an die islamischen Quellen im Bewusstsein unverrückbarer Prinzipien wie Schutz des Lebens und der Menschenwürde geht, hat man auch das richtige Verständnis.

profil: Das ist ziemlich vage. Sie sagen auch, Sie wollen muslimische Frauen sichtbarer machen. Was bedeutet das konkret? Olgun: Der Islam will nicht, dass man sie in eine Ecke schiebt. Auch wenn die Männer in den Einrichtungen sichtbarer sind, die meiste Arbeit wird von Frauen gemacht.

profil: Wenn Sie von muslimischen Frauen reden, meinen Sie Frauen mit Kopftuch oder Frauen, die an den Koran glauben? Olgun: Ich finde es nicht richtig, dass das Kopftuch verwendet wird, um Frauen zu benachteiligen. Es ist Teil der Religionsausübung und für die Frau im Islam eine Verpflichtung. Aber sie muss selbst entscheiden, ob sie diese einhält oder nicht.

profil: Angenommen, Sie hätten eine Tochter, die kein Kopftuch aufsetzt … Olgun: Ich dürfte sie als Vater nicht dazu zwingen.

profil: Würden Sie das auch in der Moschee vertreten, wenn sie dafür schief angesehen werden sollten? Olgun: Dann denken die Muslime in den Moscheen falsch, weil man allein nach dem Aussehen niemanden beurteilen kann. Nur Gott kann einen Menschen in die Hölle oder ins Paradies schicken.

Eines möchte ich klarstellen: Wenn ein Mensch einem anderen Schaden zufügt, ist klar, dass ihn nach dem Ende des Lebens nichts Gutes erwarten wird.

profil: Apropos: Laut der erwähnten Studie gibt es Burschen, die ernsthaft glauben, dass sie für einen Terroranschlag mit 72 Jungfrauen belohnt würden. Wie kann das sein? Olgun: Über das Leben im Paradies gibt es in den islamischen Quellen nur wenige Aussagen. Gelehrte sind sich einig, dass ein Mensch, der andere tötet, höchstwahrscheinlich nicht in das Paradies kommt.

profil: Höchstwahrscheinlich? Olgun: Ich bin nicht der Herrgott. Ich kann mir nicht anmaßen, über andere zu richten - selbst nicht über einen Massenmörder wie Hitler. Es gibt die Liebe, die Barmherzigkeit, es könnte sein, dass Menschen in der Stunde ihres Todes noch bereuen.

profil: Das klingt nicht sehr abschreckend für einen radikalisierten Jugendlichen. Olgun: Eines möchte ich klarstellen: Wenn ein Mensch einem anderen Schaden zufügt, ist klar, dass ihn nach dem Ende des Lebens nichts Gutes erwarten wird.

profil: Seit dem Putsch in der Türkei werden auch in Österreich Gülen-Anhänger diffamiert. Finden Sie das in Ordnung? Olgun: Diese Bewegung hat in den vergangenen Jahrzehnten die religiösen, sozialen, kulturellen Bedürfnisse vieler Muslime erfüllt, wird in der Türkei heute aber als Terrororganisation angesehen. Das weiß ich aber auch nur aus Medien. Meine Linie ist islamisch: Wenn man nicht sicher ist, sollte man diese Gruppe in Ruhe lassen.

profil: Das passiert aber nicht. Olgun: Dann müssen wir den Muslimen sagen, dass man sie nicht alle unter Generalverdacht stellen darf. Ich habe aus meiner Studienzeit auch Bekannte, die Bücher von Gülen gelesen haben.

profil: Löschen Sie jetzt deren Nummern aus Ihrem Handy? Olgun: Wenn sie anrufen, hebe ich ab. Uns ist Menschlichkeit wichtig.

profil: Als Sie ins Amt kamen, gab es Vorbehalte wegen Ihrer Rolle im türkischen Dachverband Atib. Olgun: Ich habe zwei Jahre bei Atib gearbeitet. Sofort hat man mich als Mann der türkischen Regierung abgestempelt, obwohl ich den Großteil meines Lebens in Österreich verbracht habe.

profil: Sie haben nach der Matura eine Imam-Ausbildung in der Türkei erhalten. Olgun: Ich habe 2008 in Ankara islamische Theologie studiert. Damit hat die türkische Regierung aber nichts zu tun. Ich habe auch kein Stipendium bekommen.

profil: Von den 16 Männern und Frauen aus europäischen Ländern, die mit Ihnen das Programm absolvierten, haben Sie danach die steilste Karriere gemacht. Olgun: Ich weiß nicht, was die anderen jetzt machen. Aber ich bin sehr zufrieden.

Ibrahim Olgun, 28 Der in Mistelbach aufgewachsene Sohn von Gastarbeitern war vielen zu jung und zu nahe an der Türkei, als er zum neuen Präsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft gewählt wurde. Es gab Anfechtungen von mehreren Seiten. Anfang September wurde die Wahl schließlich offiziell. Ibrahim Olgun arbeitete nach der Matura als Integrationsbeauftragter beim türkischen Dachverband Atib und absolvierte eine Imameausbildung in Ankara.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges