Gespenster-Sonate

Inflation. Das Schreckgespenst ist zurück und legt die Schwächen der Wirtschaft offen

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Drei Jahre können das Gefühl für Geld dramatisch verändern. Im Spätsommer 2008 galten die 120 Millionen Euro, welche die Abschaffung der Studiengebühren kostete, noch als eine Summe, die das Budget außer Kontrolle geraten lassen kann, und eine Inflationsrate von über drei Prozent als ein Alarmwert, der sofortiges Handeln der Politik erfordert. Auf 3,7 Prozent war die Inflation im August 2008 geklettert - und die Politiker überschlugen sich in Aktionismus: Die SPÖ schnürte ein Antiteuerungspaket, die ÖVP lud zum Inflationsgipfel, das BZÖ trommelte für sein Preisstopp-Volksbegehren.

Drei Jahre, eine Wirtschaftskrise und etliche Milliarden-Pakete für Banken und Konjunktur später ist die Geldabwertung in der Politik vollzogen. 120 Millionen Euro gelten nachgerade als Kleingeld - und dass die Inflationsrate heuer im Juli auf 3,5 Prozent (3,8 laut Eurostat) anstieg, entlockt von Kanzler Werner Faymann abwärts kaum einem Politiker eine Wortspende.

Das dröhnende Schweigen ist auch Ausdruck der Hilflosigkeit. Denn die beherrschende Sorge galt dem Gegenteil - der Deflation. Seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Herbst 2008 war man sich von Washington über Brüssel und Berlin bis Wien einig: Die Fehler der dreißiger Jahre dürfen nicht wiederholt, Fallen der Preise und Depression müssen auf jeden Fall vermieden werden. Diese Angst vor der Deflation beherrschte das Jahr 2010, die amerikanische Zentralbank pumpte billiges Geld in die Märkte, die Europäische Zentralbank (EZB) kaufte Staatsanleihen, alle Staaten verschuldeten sich enorm. Eine klassische Gemengelage für das Ansteigen der Preise - was auch prompt eintrat. "Das gebändigt geglaubte Gespenst der Inflation ist zurück“, formuliert es Karl Aiginger, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts. Noch gilt sie als das geringere Übel, weil alle verschuldeten Sektoren, von Staaten bis zu Unternehmen, von ihr profitieren und steigende Preise zu Konsum und Investitionen animieren und so die stotternde Weltwirtschaft schmieren sollen. Doch wie viel Wachstum braucht es, um diese Gleichung aufgehen zu lassen? Oder droht noch immer die Deflation? Und ab wann ist der Wendepunkt erreicht, ab dem Inflation gefährlich wird?

Wer diese Fragen exakt beantworten kann, hat den nächsten Wirtschafts-Nobelpreis fast schon in der Tasche. Die vage, aber einhellige Analyse der Ökonomen lautet: noch nicht. Denn der Preisauftrieb in der Eurozone fiel im Juli mit 2,5 Prozent einen Hauch niedriger aus als erwartet, im Juni waren es noch 2,7 Prozent gewesen. Seit Monaten halten die hohen Energie- und Rohstoffpreise die Teuerung zwar deutlich über der Marke von zwei Prozent, bei der die EZB stabile Preise als gewährleistet sieht. In einer Phase, in der das Wirtschaftswachstum quer durch die Eurozone deutlich an Schwung verliert und alle Staaten mit Schulden kämpfen, gilt das aber als vertretbar. Noch.

Doch Österreich ist ein Sonderfall. Zwischen 1997 und 2010 war die Inflation hierzulande mit 1,6 Prozent um 0,3 Prozentpunkte niedriger als im Schnitt des Euroraums. Mittlerweile ist die Relation umgekehrt: Österreich hat sich, gemeinsam mit Estland und Belgien (siehe Grafik), an die Spitze der Inflationsstaaten gesetzt. "3,5 Prozent Inflation sind eindeutig zu hoch. Zwei Prozent sind die Obergrenze, um positive Effekte der Inflation nutzen zu können“, warnt Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung, der gemeinhin nicht zum Alarmismus neigt. Für ihn ist die überproportionale Teuerung in Österreich ein Warnsignal, weil sie Schwächen der heimischen Wirtschaft offenlegt: "Die Produktivitätsdynamik im staatlichen und halbstaatlichen Sektor ist deutlich zu niedrig. Und im Lebensmittelsektor gibt es zu wenig Wettbewerb, etwa durch ausländische Anbieter.“

Die Forschung nach den Ursachen der hohen heimischen Inflation ist einer der seltenen Fälle, in denen Industriellenvereinigung und Arbeiterkammer (AK) aus einem Mund sprechen. Auch die Arbeitnehmervertretung beklagt die hohe Konzentration im Handel, die zu hohen Preisen führe: Immerhin verfügen drei große Ketten (Spar, Rewe, Hofer) über einen Marktanteil von fast 80 Prozent. Beim Nachbarn Deutschland sind die Preise deutlich niedriger, wie die AK-Preistester seit Monaten belegen: Eine Packung Mon Chéri etwa kostet in Wien um 121 Prozent mehr als in Berlin, Wimperntusche von Maybelline ist in Salzburg um 127 Prozent und ein Nivea-Deo um 90 Prozent teurer als in Bayern. Auch wer Milka-Schokolade will, bekommt sie in München um 43 Prozent billiger als in Wien.

Josef Baumgartner, Inflationsexperte des Wirtschaftsforschungsinstituts, kann noch einige preistreibende Besonderheiten des österreichischen Markts aufzählen, etwa ein Faible für Bio- und höherwertige Produkte. An sich wären hohe Preise und steigende Teuerung im viertreichsten Land der EU kein großes Drama. Dem setzt Baumgartner ein großes Aber nach: "Die Löhne sinken durch den Kaufkraftverlust heuer um 0,8 Prozent. Das ist der zweite Reallohnrückgang in Folge, im Vorjahr waren es 0,7 Prozent.

Das kann eine Abwärtsspirale in Gang setzen. Wenn Löhne weniger wert werden, sinkt der Konsum - und das wiederum schwächt die Konjunktur. In Österreich sinken seit Mitte der neunziger Jahre die Reallöhne der unteren Einkommensgruppen, während die höheren Verdienste steigen. Gerade bei Niedrigverdienern aber fließt jeder entbehrliche Euro direkt in den Konsum. Daher plädiert der Wirtschaftsforscher Markus Marterbauer dafür, die untersten Schichten durch Inflationsausgleich bei Sozialleistungen zu entlasten. Denn seit der Wirtschaftskrise wachse die Ungleichheit zwischen Vermögen und Einkommen ohnehin an, wie Marterbauer in seinem neuen Buch "Zahlen bitte! Die Kosten der Krise tragen wir alle“ auflistet.

Mit ähnlichen Problemen, wenn auch auf viel höherem Niveau, hat China zu kämpfen. Dort stieg die Inflation im Juli auf 6,5 Prozent, die steigenden Lebensmittelpreise versetzten die Regierung in Alarmbereitschaft. Derartige Ängste sind quer über den Globus spürbar und lassen viele Anleger in Gold flüchten. Besonders in Deutschland, das nach dem Ersten Weltkrieg Hyperinflation erlebte, sind die Sorgen tief verankert: Vor 1914 war ein Dollar vier Mark wert, Ende 1923 stand die Relation bei 4,2 Billionen Mark.

Bei all den Übeln: Einige Wirtschaftsforscher können dem Schreckgespenst Inflation dennoch positive Seiten abgewinnen, immerhin fungiert sie als Schmiermittel für die Wirtschaft. Schließlich nützt Inflation tendenziell den Schuldnern - und geliehenes Geld fließt zuallererst in den Konsum. Von einer höheren Teuerungsrate profitieren auch die schuldengeplagten Staaten. Denn die Verbindlichkeiten bestehen zum größten Teil in festverzinslichen Anleihen. Liegt deren Zinssatz unter der Inflationsrate, ist dies ein schlechtes Geschäft für die Gläubiger, aber ein ausgezeichnetes für den Staat. "Für Altschulden wäre das ein Vorteil“, sagt Uta Pock, Chefvolkswirtin der Volksbank. Der Nachteil: Bei der Aufnahme neuer Schulden würden die Zinsen sofort in die Höhe schießen. Zusätzlich kann sich der Staat bei steigenden Preisen auch über höhere Steuereinnahmen freuen.

Der Innsbrucker Finanzwissenschafter Jürgen Huber denkt noch einen Schritt radikaler. Er plädiert dafür, mithilfe der Inflation Kürzungen im Sozialbereich zu verschleiern. Etwa bei den Pensionen. Sein Vorschlag: Erhöht der Staat bei einer Inflationsrate von vier Prozent die Pensionen um lediglich zwei, sind die Renten real um zwei Prozent gekürzt. Und zwar ohne dass es den Betroffenen groß auffällt.

Manchen Experten scheint die Diskussion über Inflation aber ohnehin müßig. Sie sehen die viel größere Bedrohung in einer bevorstehenden Deflation. Was für den durchschnittlichen Verbraucher auf den ersten Blick ein durchaus erfreuliches Szenario ist - zu verlockend ist der Gedanke, dass das Ersparte morgen schon viel mehr wert sein könnte -, ist für Volkswirte der pure Horror. "Deflationsspiralen sind viel schwieriger zu bekämpfen als Inflation. Das zeigt das Beispiel Japan“, sagt Stefan Bruckbauer, Chefökonom der Bank Austria. Der Inselstaat war in den neunziger Jahren in die Deflation gerutscht und hat sich bis heute nicht erholt.

Die Voraussetzungen für deflationäre Tendenzen sind jedenfalls gegeben: Wenn sich das allgemeine wirtschaftliche Klima verschlechtert und Staaten sparen, weil sie hoch verschuldet sind, Konsumenten ihre Kaufentscheidungen und Unternehmen ihre Investitionen hinausschieben, fallen die Preise auf breiter Front. In Krisenstaaten wie Irland, Griechenland und Italien ist das bereits zu beobachten - dort sank die Inflation deutlich ab. So kann eine Preissenkungsspirale entstehen, welche die Wirtschaft auf Jahre hinaus schrumpfen lässt. Die Große Depression in den USA der dreißiger Jahre ist der Inbegriff für die desaströsen Folgen von Deflation: Massenarbeitslosigkeit, Unternehmensinsolvenzen en gros.

Ganz einig, ob es zu einer Geldaufwertung oder doch zu einer weiteren Abwertung kommt, sind sich die Wirtschaftsforscher nicht. Derzeit deuten die Indikatoren jedenfalls nicht auf einen weiteren Anstieg der Inflation hin. Die schwache Konjunktur wird den Rohstoffpreisen keinen neuen Auftrieb geben, damit fällt die Inflationsrate automatisch wieder. "Bis zum Frühjahr wird der Ölpreis sinken und damit den Verbraucherpreisindex drücken“, prognostiziert Bruckbauer, "und dann werden wir vor dem Komma auch wieder eine Zwei sehen.

Auch die EZB hat ein wachsames Auge auf die Teuerungsrate. Denn im Gegensatz zum US-amerikanischen Notenbanksystem Federal Reserve Bank (Fed), das sich auch um Vollbeschäftigung kümmern muss, ist die EZB vor allem der Geldwertstabilität verpflichtet. Der Vorwurf, dass sie die Notenpresse angeworfen habe und mit ihren Anleihenkäufen die Inflation anheize, geht ins Leere. Denn ein "quantitative easing“, wie es die Fed und die Bank of England betrieben haben, hat die EZB nicht praktiziert. In der Vergangenheit hat sie ihre Käufe stets "sterilisiert“, wie es im Fachjargon heißt. Also die Liquidität, die sie in den Markt pumpte, an anderer Stelle wieder entzogen. Und sollte die Teuerung doch aus den Fugen geraten, könnte sie die derzeit ohnehin sehr niedrigen Leitzinsen von 1,5 Prozent jederzeit weiter anheben. In den vergangenen Monaten hat sie genau so auf die Inflation reagiert und im April und Juli die Zinsen erhöht. In den USA hingegen hält die Fed die Zinsen weiterhin nahe bei Null.

Damit würde sie bei "Economia verlieren. In diesem Online-Computerspiel der Europäischen Zentralbank kann jeder in die Rolle des Notenbank-Chefs schlüpfen und die Weltwirtschaft kontrollieren. Beim ersten Anzeichen von Inflation fordert eine virtuelle Beraterin, eine energische junge Bankerin, vehement, den Leitzins zu erhöhen.

Allerdings ist "Economia nicht auf dem neuesten Stand. Euro-Rettungsschirme und Käufe von Staatsanleihen sind dort keine Optionen.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin