Gerhard Karner
Interview

Innenminister Karner: „Sind an der Grenze der Belastbarkeit“

Innenminister Gerhard Karner will unaufgeregt und ohne Schaum vor dem Mund über Migration sprechen. Sagt aber: Es kommen derzeit viele Flüchtlinge, vor allem über den Balkan. In Österreich fehlen für sie Quartiere, daher „wird es auch Zelte geben“.

Drucken

Schriftgröße

Ihr Vorgänger Karl Nehammer wollte mitunter die Flex auspacken. Wie legen Sie Ihre Rolle an? 
Karner
Als Innenminister darf man kein Weichspüler sein. Ich habe mir vorgenommen, die Dinge sachlich, konsequent, unaufgeregt und mit Hausverstand anzupacken. 
Beim Thema Migration ist viel Emotion im Spiel. 
Karner
Die eine Seite wirft mir vor, zu dramatisieren – etwa die SPÖ-Vorsitzende, die mir ausgerichtet hat, das Thema angeblich hochzuziehen, um von etwas abzulenken. Die andere Seite, vor allem die FPÖ, meint, ich würde die Probleme kleinreden. Daher ist es umso wichtiger, das Thema ruhig und seriös anzugehen, ohne Schaum vor dem Mund.
Das Innenministerium griff seit Mai fast 70.000 illegal über die Grenze gekommene Menschen auf. Ist die Lage so dramatisch wie 2015?
Karner
Migration findet in Wellen statt, die aktuelle hat mehrere Ursachen: der Angriffskrieg Putins auf die Ukraine, neues Marketing der Schlepper. Die globale Wirtschaftskrise, wegen der sich indische oder tunesische Staatsbürger auf den Weg machen. Alles zusammen: Wir sind an der Grenze der Belastbarkeit. Es muss alles Menschenmögliche getan werden, damit wir Situationen wie 2015 nicht mehr erleben.
Nur 660 Inder sind in der Asyl-Grundversorgung, der Großteil zieht weiter. Wäre es nicht gescheiter, sie durchreisen zu lassen, wie Ungarn es macht?
Karner
Wir sind es allen schuldig, die Grenzen zu schützen. Schließlich ist Schengen ein Grundpfeiler der EU. Wir müssen Menschen registrieren. Aber Asylwerber haben nichts verbrochen und dürfen nicht angehalten werden. Sie haben die Möglichkeit, weiterzuziehen, und das tun sie in vielen Fällen. Wer kein Recht auf Asyl hat, soll in seine Heimat zurückkehren. Daher machen wir Druck auf die EU-Kommission, bei Rücknahmeabkommen initiativer zu werden. 
Ihre deutsche Amtskollegin Nancy Faeser (SPD) zeigt sich besorgt, wie viele Menschen über die Balkanroute kommen. Sebastian Kurz rühmte sich, die Balkanroute geschlossen zu haben. War das ein Schmäh?
Karner
Ich habe mich mit Fakten auseinanderzusetzen. Dazu gehört, dass über den Westbalkan derzeit 90 Prozent der illegalen Migranten kommen. Auch deshalb, weil viele Inder direkt in Belgrad landen – wegen der Visaerleichterungen, die Serbien für Inder einführte. 
Wollte Serbien damit den russischen Präsidenten Putin unterstützen?
Karner
Ich habe nicht zu spekulieren. Serbien ändert dieses Visaregime nun, weil wir gemeinsam mit der EU-Kommission Druck gemacht haben. Jetzt versuchen viele Menschen noch schnell, vorher diesen Weg nach Europa zu nützen.
Die Balkanroute ist also offen?
Karner
Routen ändern sich ständig. Schlepper reagieren – leider – höchst professionell auf Veränderungen. Deshalb reagieren auch wir: Tschechien hat an der Grenze zur Slowakei Kontrollen eingeführt, wir auch.

Ich habe nie einen Menschen gefragt, welches Parteibuch er hat.

 

Karner zu den Postenschacher-Vorwürfen

Es gibt viele Berichte über Pushbacks. Sind sie quasi legalisiert als Teil der Abschreckungspolitik?
Karner
Pushbacks sind illegal. Aber wir brauchen einen robusten Außenschutz. Daher muss klar sein, wann man zurückweisen darf. Allen Vorwürfen muss nachgegangen werden. Der ungarische und der serbische Innenminister sagen: Nein, Pushbacks gibt es nicht. Was es aber zweifellos gibt, sind Schlepperbanden, die sich untereinander bekriegen, um ihre Hoheitsgebiete zu verteidigen.
Sie haben eine Abschreckungskampagne lanciert. Die Website verzeichnet kaum Klicks. Ist das Geld hinausgeworfen?
Karner
Es ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen notwendig. Dazu gehören – auf nationaler Ebene – Grenzkontrollen, beschleunigte Verfahren und Anti-Schleppermarketing, bewusst in Herkunftsländern wie Indien oder Algerien, für die es praktisch keine Chance auf Asyl gibt. Die Kampagne wird kontinuierlich nachjustiert und in den relevanten Ländern über die unterschiedlichsten Kanäle verbreitet – nicht über eine einzige Website. Aber: Schlepper erzählen die Lüge, dass Europa offen ist. Wir brauchen Menschen, die erzählen, welche echten und schlechten Erfahrungen sie mit Schleppern gemacht haben. Die Wahrheit ist das beste Anti-Marketing.
Wer nach Österreich kommt, braucht ein Quartier. Die Bundesländer nehmen zu wenige Flüchtlinge auf. Sie könnten per Gesetz durchgreifen. Halten Sie das für nötig?
Karner
Gerade in der Ukraine-Krise haben Bund, Länder, Gemeinden und Hilfsorganisationen viel geleistet. Der Druck steigt. Viele Privatpersonen, die jetzt ein halbes Jahr Ukrainer:innen beherbergt haben, kämpfen mit der Teuerung und wollen, dass Bund und Länder mehr übernehmen. Es hat keinen Sinn, sich wechselseitig den Schwarzen Peter vorzuhalten. Wir müssen gemeinsam für Quartiere sorgen, damit niemand auf Straßen, vor Schulen oder auf Bahnhöfen herumsitzen muss. Es wird auch Zelte geben. 
Wir halten heuer bei über 70.000 Asylanträgen, 90.000 Personen sind in Grundversorgung, davon sind das Gros 56.000 ukrainische Flüchtlinge. 
Karner
Der Angriffskrieg Putins ist Hauptfluchtursache, jetzt gibt es Flächenbombardements, das könnte eine neuerliche Welle auslösen. Dafür müssen wir uns wappnen. Ich bin im Austausch mit NGOs wie Caritas und Diakonie. Es gibt Projekte, auch Unterkünfte in der Ukraine winterfest zu machen. 
Sollen russische Deserteure so wie Ukrainer einen Sonderstatus bekommen, wenn sie in Europa Schutz suchen?
Karner
Für solche Fälle wurde das Asylsystem geschaffen. Das heißt, es wird der Einzelfall geprüft. Eine Vertriebenen-Richtlinie wie für Ukrainer wird es sicher nicht geben.
Mit der Flüchtlingszahl steigt die Angst vor Kriminalität. Was erwarten Sie?
Karner
Bei kriegerischen Auseinandersetzungen gibt es die Gefahr von Terrorismus und illegalem Waffenhandel, das überwacht die EU-Kommission genau. Die zweite Herausforderung sind die Schlepperbanden. Deren mafiöse Strukturen müssen wir bekämpfen. Experten schätzen, dass im Schleppergeschäft mittlerweile mehr verdient wird als im Drogenhandel. Mittelfristig müssen wir auf EU-Ebene diskutieren, ob wir Asylverfahren in sicheren Drittstaaten durchführen, damit sich Menschen gar nicht auf den Weg machen. 
Viele Unternehmen in Österreich klagen über Arbeitskräftemangel. Sollen Asylwerber arbeiten dürfen?
Karner
Wir müssen legale und illegale Migration strikt trennen. Für legale Zuwanderung ist Arbeitsminister Martin Kocher zuständig: Wir brauchen geeignete Arbeitskräfte, daher wurde die Rot-Weiß-Rot-Karte reformiert. Ich bin für den Kampf gegen illegale Migration zuständig  und würde es für das völlig falsche Signal halten, Asylwerber arbeiten zu lassen. Damit schafft man unrealistische Hoffnungen und erleichtert das Geschäft der Schleppermafia.
Im Koalitionsprogramm steht ein Notfallmechanismus, falls sich ÖVP und Grüne nicht über Grenzschutz und andere Maßnahmen einig werden. Tritt der Notfallmechanismus jetzt in Kraft?
Karner
Nein. ÖVP und Grüne liegen beim Thema Migration weit auseinander. Aber wir haben immer einen gemeinsamen Weg gefunden. Natürlich war es keine leichte Entscheidung, Grenzkontrollen zur Slowakei einzuführen. Wir haben debattiert, ohne Emotion, ohne ideologische Scheuklappen. So kommen wir zu vernünftigen Lösungen.  
Trotzdem gibt es Differenzen: Sie waren dagegen, den Klimabonus an Asylwerber auszuzahlen.
Karner
Aber es wurde so mit den Grünen vereinbart, daran halte ich mich.
Laura Sachslehner begründete ihren Rücktritt als ÖVP-Generalsekretärin damit.
Karner
Bitte um Verständnis: Ich habe große Herausforderung in meinem Ressort, ich diskutiere derartige Einzelfälle nicht. 
Über einen prominenten Einzelfall schon: Vor einem Jahr trat Sebastian Kurz zur Seite und zurück. Seither ringt die ÖVP um Orientierung.
Karner
Seit 6. Dezember ist Karl Nehammer Bundeskanzler. Ich kenne ihn seit Jahren und arbeite exzellent mit ihm zusammen. Es ist unbestritten, dass wir mit Sebastian Kurz große Wahlsiege eingefahren und wichtige Dinge umgesetzt haben. Aber jetzt ist eine andere Zeit. Wir haben den Blick nach vorn zu richten und die Dinge anzupacken. Dafür  wurden wir gewählt, und dafür arbeiten wir.
Sind Sie türkis oder schwarz?
Karner
Von allem ein bisschen – und vor allem durch und durch ÖVPler.
Vorige Woche sagten Sie im ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss aus, trugen aber wenig zur Aufklärung der Postenschacher-Vorwürfe bei.
Karner
Der Untersuchungszeitraum des U-Ausschusses endet mit 11. Oktober 2021 – ich wurde am 6. Dezember 2021 Innenminister. Ich musste also im Ausschuss oft sagen, dass ich 
im Untersuchungszeitraum Bürgermeister von Texingtal war. 
Aber Postenschacher im Innenministerium ist seit Jahrzehnten Thema. Sie waren Pressesprecher von Innenminister Ernst Strasser, damals gab es E-Mails mit „Betreff: Intervention“. 
Karner
Dieses Haus wurde sehr lange von SPÖ-Innenministern regiert, damals gab es Postenschacher-Vorwürfe gegen die SPÖ. Jetzt gibt es sie gegen die ÖVP. Von 2000 
bis 2003 war ich Pressesprecher hier, dann Sicherheitssprecher im Niederösterreichischen Landtag, seit Dezember bin ich Innenminister. In all den Jahren habe ich nie einen Menschen gefragt, welches Parteibuch er hat. 
Schwer zu glauben.
Karner
Ist aber so. Ich weiß nicht, ob Beamte im Haus einer Partei angehören. Natürlich kriegt man manchmal mit: Ah, der ist auch Gemeinderat. Aber entscheidend ist, welche Arbeit jemand macht. 
Das ist in der Praxis oft anders, wie der U-Ausschuss zeigt. Woran scheitert es eigentlich bis heute, Thomas Schmid vor dem U-Ausschuss vorzuführen?
Karner
Persönlich hätte ich nichts dagegen, Herrn Schmid sofort vorzuführen, und ich habe auch die Polizeidirektion Wien damit beauftragt, alles rechtlich Mögliche zu tun, um Thomas Schmid vorzuführen. Natürlich sind seine Chats verwerflich. Ich war nie in einer WhatsApp-Gruppe, ich konnte gar nicht chatten. Ich habe mir erst als 
Innenminister ein Smartphone zugelegt, weil es für die Terminplanung notwendig ist. Bis 5. Dezember 2021 hatte ich ein uraltes Nokia-Handy.
Ihr Ernst? 
Karner
Als ich ins Ministerium kam und mein Handy herzeigte, schlugen die Techniker die Hände über dem Kopf zusammen. Ohne Smartphone habe ich mir allerhand erspart: Ich habe am Anfang dort Twitter beobachtet. Twitter gilt als modernes Medium, erinnert mich aber an einen mittelalterlichen Marktplatz, wo Hexen verbrannt und Menschen an den Pranger gestellt werden. Auf Twitter geht es aggressiver zu als im realen Leben.

„Im Schleppergeschäft wird mehr verdient als im Drogenhandel.“

Auch im realen Leben ist die Proteststimmung groß, wie die Bundespräsidentenwahl gezeigt hat.
Karner
Das sehen wir bei Corona-Demonstrationen, dort nutzen teils wirre Gruppen den Zorn auf die Regierung. Aber wir als Regierung haben gerade ein Budget vorgelegt. Die kalte Progression wird abgeschafft, Sozialleistungen werden valorisiert, das ist ein riesiges Paket. Wir sollten uns in unserer konsequenten Arbeit nicht beirren lassen. 
Reicht das? Wie sollen etablierte Parteien auf die Proteststimmung reagieren?
Karner
Unaufgeregt – gerade weil die Aufregungsspirale sich schnell dreht. Früher hat man ein Monat über ein Thema diskutiert. Mittlerweile kommt alle zwei Stunden ein neues Thema. Von der Schnelllebigkeit soll man sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. 
Es gibt Plagiatsvorwürfe gegen Ihre Diplomarbeit. Ministerin Christine Aschbacher trat wegen Plagiatsvorwürfen zurück. Sehen Sie auch Grund dafür?
Karner
Ich sehe das in aller Gelassenheit. Ich habe mein Wirtschaftsstudium sehr holprig begonnen, weil ich die ersten Jahre das Studentenleben in Wien genossen habe. Dann habe ich aber für meinen Abschluss und die Diplomarbeit wirklich hart gearbeitet. Ich bin überzeugt, dass bei der Plagiatsprüfung nichts herauskommt. Daher kommt es nicht infrage, irgendwelche Konsequenzen zu ziehen.
Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

war von 1998 bis 2024 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges.