Blick über Wien

Inspiration für Rot-Grün in Wien: Macht Wien seltsamer!

Was könnte Rot-Grün von anderen Städten lernen? Ein Einblick in neun besonders kreative Metropolen.

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Die rot-grüne Koalition in Wien steht. Die Stadtregierung will Migranten fallweise das Wahlrecht gewähren, eine Modellregion für die Gesamtschule werden, Kindergartenplätze für alle, nicht-amtsführende Stadträte abschaffen, das mehrheitsfördernde Wahlrecht abschwächen, 10.000 Wohnungen pro Jahr bauen und Radfahren beliebter machen. Insgesamt enthält das Koalitionspapier wenig Überraschungen. Dabei könnte Wien einiges von anderen Metropolen lernen - neun Beispiele von Berlin bis San Francisco.

Hamburg

Deutsch lernen wie in Hamburg

Wer sorgt dafür, dass alle Kinder möglichst gut Deutsch können? Hamburg hat ein besonders ambitioniertes Konzept. Dort gibt es an jeder Schule einen "Sprachlernberater“ (ausgenommen Oberstufe). Diese Lehrer machen eine einjährige Fortbildung, achten dann darauf, wie Kinder mit Sprachdefiziten gefördert werden. Die Sprachlernberater erstellen ein eigenes Förderkonzept für ihre Schule. "Es gibt einfach jemanden, dessen dezidierte Aufgabe es ist, auf dieses Thema zu achten“, erklärt Erziehungswissenschafterin Ursula Neumann von der Uni Hamburg. Entscheidend findet sie, dass die Pädagogen Teil eines größeren Sprachförderkonzeptes sind, wo die Kenntnisse der Kinder regelmäßig getestet und demnach auch den Schulen weitere Förderstunden bezahlt werden. Rot-Grün in Wien will laut Koalitionspapier die Sprachförderung ausbauen, speziell im Kindergarten, und das Sprachangebot für Asylwerber umkrempeln. Gerade in Zeiten der Flüchtlingskrise wäre ein umfassendes Konzept wie in Hamburg sinnvoll - zu vieles hängt vom Engagement einzelner Lehrer ab.

Bratislava

Schluss mit der Geheimniskrämerei

Wien wird dafür kritisiert, dass Vergaben intransparent sind, manchmal gar nur ein Bieter mitmischt und am Ende SPÖ-nahe Unternehmen zum Zug kommen. Es ginge auch anders. Im Jahr 2010 beschloss die Slowakei eine Transparenz-Reform, wonach alle Verträge der öffentlichen Hand im Internet veröffentlicht werden müssen - von kleinen Einkäufen bis hin zur Ausschreibung öffentlicher Aufträge (mit wenigen Ausnahmen, etwa Aufträge im Rahmen der nationalen Sicherheit). "Seither hat sich auch die Vergabepraxis in Bratislava massiv geändert. Es kommt wesentlich seltener vor, dass es bei Ausschreibungen nur noch einen Bieter gibt“, sagt Mathias Huter vom Forum Informationsfreiheit. Diese Transparenz würde Wien guttun.

In Stockholm hat fast jeder Haushalt Zugang zu Glasfaserkabeln, die schnellen Internetzugang ermöglichen.

Portland

Mit Begeisterung zur grünen Wende

Portland, eine 600.000-Einwohner-Stadt an der US-Westküste, wurde berühmt als Eldorado für Öko-Freaks, Bio-Esser und Radfahrer. Seit Jahrzehnten wird darauf geachtet, dass sich Portland nicht zu sehr zersiedelt, dass Bürger ihre Wege zu Fuß oder per Rad erledigen können (in sogenannten "walkable and bikeable neighborhoods“). "Beeindruckend an Portland ist die Vielzahl der Maßnahmen und wie gut die Bürger mit den Behörden zusammenarbeiten“, sagt Michael Staudinger, Klima-Experte und Direktor der Wetteranstalt ZAMG. Wien hat vergleichbare Klimaziele wie Portland, von einzelnen Projekten könnte Wien sich etwas abschauen. So sind in Portland die Innenstadtampeln auf Radfahrgeschwindigkeit geschaltet. Seit Neuestem werden Wasserleitungen mit Turbinen ausgestattet, um aus durchrinnendem Wasser Energie zu gewinnen. Ungewöhnlich ist vor allem die Mentalität: Viele Bürger sind stolz auf die grünen Projekte. Das inoffizielle Motto der Stadt heißt: Keep Portland weird. Lasst Portland seltsam bleiben. In dem Sinne: Macht Wien seltsamer!

Stockholm

So schnell im Netz wie die Schweden

Ein schnelles Internet ist nicht nur praktisch, es ist auch ein Wettbewerbsvorteil für den Standort. Stockholm hat das beeindruckend früh erkannt. 1994 gründete die Stadt das Unternehmen AB Stokab, das in der schwedischen Hauptstadt Glasfaserleitungen verlegt. In Stockholm haben heute mehr als 90 Prozent der Haushalte direkten Anschluss an Glasfaserkabel - international ein Rekordwert. Das Netz gehört der Stadt, private Internetanbieter können sich einmieten. In Wien gibt es diesen Ansatz teilweise: So gehört das Glasfasernetz "Blizznet“ der Wien Energie. Doch der Ausbau der Glasfaser findet hier wesentlich punktueller und teils von privaten Anbietern statt, denen dann das Netz gehört. Das schwedische Beispiel ist um einiges radikaler und zeigt, was möglich ist, wenn die Politik das Internet als öffentliche Aufgabe sieht.

London

Unnötige Lieferungen streichen

Eine Millionenstadt, die beim Verkehr alles richtig macht, ist schwer zu finden. Wien liegt beim öffentlichen Verkehr tatsächlich im Spitzenfeld. Jedoch: Von einzelnen Metropolen könnte sich die Stadt clevere Ideen abschauen. Etwa von London. Dort gibt es in der Regent Street, einer berühmten Einkaufsstraße, mittlerweile ein gemeinsames Lieferservice. Die Unternehmen und die Stadt evaluierten, wie viele Gütertransporte jeden Tag zu den Geschäften und Büros fuhren. Viel Verkehr war vermeidbar. Mittlerweile können Läden auf der Regent Street ihre Waren zu einem Sammelpunkt in Nord-London liefern lassen. Von dort führen dann Elektro-Fahrzeuge die Güter nach einem Zulieferkonzept zu den Geschäften. Die teilnehmenden Unternehmen sparten so 80 Prozent der Lieferungen ein. In Wien scheint der Güterverkehr - und welche Kosten und Abgaben er verursacht - langsam zum Thema zu werden: Die Koalition will dazu nun eine Studie erstellen lassen.

Berlin

Stimmung für Start-ups machen

Wie kann Wien zu einer florierenden Start-up-Stadt werden, wo innovative Jungunternehmen neue Arbeitsplätze schaffen? Berlin könnte ein Vorbild sein, es hat einen guten Ruf als Stadt für Verkaufsplattformen, auch Onlinehändler Zalando ist hier tätig. "Von Berlin können wir lernen, sich auf ein Thema zu setzen. In Berlin war das eCommerce. In Wien könnte das Life-Sciences sein, im Gesundheitsbereich gibt es hier interessante Start-ups“, sagt Andreas Tschas, Gründer von Pioneers, einer Plattform, die Jungunternehmen mit Investoren und etablierten Konzernen vernetzt. "In Berlin passierte all das eher zufällig. In Wien könnte man das aber bewusst bündeln. Wichtig wäre zum Beispiel eine Art Campus, eine Verortung der Start-ups, wo diese ihre Ideen austauschen können“, sagt Tschas. Es soll bereits Gespräche mit der Stadt geben. Eine klare Ausrichtung hilft übrigens auch beim Lukrieren von Investorengeldern. In Berlin sind mittlerweile namhafte Venture-Capital-Firmen angesiedelt.

Mit Harvey Milk gab es in San Francisco den ersten bekennenden schwulen Politiker der USA.

Kopenhagen

Fahrrad-Schnellstraßen errichten

Die Stadt mit 580.000 Einwohnern ist weltberühmt als Radfahrparadies. Zu Recht. Die Wiener Koalition will den Radverkehrsanteil auf zehn Prozent steigern. In Kopenhagen liegt er bei mehr als 30 Prozent. Die Radwege sind besonders sicher gestaltet, oft mit Abtrennungen zum Autoverkehr. Ähnlich wie in Portland sind viele Ampeln der Geschwindigkeit von Radfahrern angepasst. Auch das gefällt den Radlern: Kopenhagen arbeitet eng mit rund 20 umliegenden Gemeinden zusammen. Sogenannte "Supercykelstier“ wurden eingerichtet, zu Deutsch Schnellstraßen fürs Fahrrad, die möglichst wenige Unterbrechungen haben. Das soll Pendler, die nahe der Stadt wohnen, aufs Rad bringen. Mit Erfolg. "Eine heurige Evaluation hat gezeigt, dass die Zahl der Fahrradpendlerinnen an Wochentagen seit der Einführung 2012 um 52 Prozent gestiegen ist“, sagt Markus Gansterer vom Verkehrsclub Österreich (VCÖ). Eine zeitgemäße Herausforderung: Schafft Wien es, gemeinsam mit Niederösterreich solche Rad-Schnellstraßen zu errichten?

San Francisco

Homo-Ehe zur Normalität machen

Sowohl die SPÖ Wien wie auch die Wiener Grünen sprechen sich für die Homo-Ehe aus, ein eigenes "Regenbogenfamilienzentrum“ soll künftig Beratung für schwule und lesbische Paare bieten. Wie mutig Stadtpolitik sein kann, zeigt San Francisco. Nicht nur, weil es dort mit Harvey Milk den ersten bekennenden schwulen Politiker der USA gab. Die Stadt unterstützt auch queere Kultur, fördert homosexuelle Gruppen, von Jugendlichen bis Pensionisten. Besonders beeindruckend war, was der frühere Bürgermeister Gavin Newsom machte. Er ordnete im Jahr 2004 den Bediensteten am Standesamt an, auch schwule und lesbische Paare zu trauen, obwohl dies gegen die kalifornischen Gesetze verstieß. Mehr als 4000 Paare heirateten, ehe das kalifornische Höchstgericht all diese Trauungen für ungültig erklärte - was zu einer landesweiten Debatte führte. Letztlich erhielt Newsom Recht: Als der amerikanische Supreme Court heuer die Ehe für alle erlaubte, jubelten Menschen vor dem Rathaus in San Francisco. Sie hatten das Gefühl, ihre Stadt habe den entscheidenden Anstoß gegeben. Das wäre doch auch ein guter Job für Rot-Grün.

Tel Aviv

Eine Stadt am Meer hat ein anderes Lebensgefühl

Aber es gibt Grenzen, die selbst die ambitionierteste Stadtpolitik nicht überschreiten kann.

Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

ist Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.