Das große Durcheinander

Integration: Es gibt gravierende Probleme, die nicht verschwinden, wenn man wegschaut

Integration. Es gibt gravierende Probleme, die nicht verschwinden, wenn man wegschaut

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Walter B. hechtete zum Fernseher. Es musste doch eine Erklärung für das geben, was sich unter seinem Fenster abspielte. In all den Jahren, in denen er in Wien-Ottakring lebte, hatte er noch nie einen solchen Tumult erlebt. Im Teletext las er von Fußball-Krawallen in Belgrad: „Aha, das wird es wohl sein.“

Herr B. lag richtig. In der serbischen Hauptstadt hatte eine Drohne eine großalbanische Flagge über das Spielfeld gezogen, Hooligans und Kicker lagen einander wenig später in den Haaren. Kurz darauf loderten hunderte Kilometer weiter in Wien bengalische Feuer und ethnische Ressentiments. Die Polizei rückte aus, um die Kinder albanischer und serbischer Gastarbeiter voneinander zu trennen.

„Ich bleibe Ghetto“
Ist die Integration gescheitert? Die Frage drängte sich in den vergangenen Wochen und Monaten immer öfter auf. In Wien-Floridsdorf traktierten verfeindete Tschetschenen-Clans einander mit Pistolen und Messern, angeblich, weil in einer Familie das Foto der 25-jährigen Tochter der anderen Familie kursiert war. Einige landeten im Spital, der Rest sitzt im Gefängnis. Es ist nicht lange her, dass in Bischofshofen junge Türken in „Ich bleibe Ghetto“-Jacken ein Gastspiel israelischer Kicker stürmten. In Schulen und Jugendzentren haben Sozialarbeiter und Lehrerinnen alle Hände voll zu tun, ethnische Streitereien zu schlichten und religiöse Fanatiker zu kalmieren. Facebook-Fotos eines Wiener IS-Dschihadisten werden tausendfach „geliked“.

Integrationsskeptiker und -gegner fühlen sich in ihrem Vorurteil bestätigt, dass Menschen, die nicht gleich aussehen und nicht an den gleichen Gott glauben, nicht zusammenleben können, während die Gutmeinenden warmherzige Appelle formulieren und bei Ausschreitungen betreten schweigen. In diesem Entweder-Oder steckt die Debatte seit Langem fest. Es fehle an Ernsthaftigkeit in der Sache und Besonnenheit im Umgang, klagt der Wiener Soziologe Kenan Güngör (siehe Interview hier).
Das zeigte auch der bizarre Streit, den SPÖ und ÖVP vor der Volksbefragung zur Wehrplicht im Jänner 2013 vom Zaun brachen. Der damalige Staatssekretär Sebastian Kurz hatte die Integrationswirkung des Militärdienstes als Argument für die Wehrpflicht gebraucht. Deren positive Effekte seien durch eine Studie der Landesverteidigungsakademie (Lavak) belegt, die Verteidigungsminister Norbert Darabos freilich unter Verschluss halte. Der Konter der SPÖ: Die Integrationswirkung des Wehrdienstes sei „ein Mythos“. Bis heute ist die 150 Seiten starke Studie nicht veröffentlicht worden.

Stefan Kirchebener will über Integration nicht reden: „Wir führen sie durch.“ Der Oberstleutnant ist der Kommandant der Garde, bei der die Mehrheit der Wiener Rekruten dient. Das Heer führt keine Aufzeichnungen über die Wurzeln seiner Grundwehrdiener; derzeit dürften rund 20 Prozent einen Migrationshintergrund aufweisen. Im Hauptquartier der Garde in der Maria-Theresien-Kaserne steht muslimischen Rekruten ein Gebetsraum zur Verfügung. Das Essen ist „halal“ (arabisch für: erlaubt). Strenggläubige Muslime und Sikhs sind von der Rasurpflicht befreit. In der Garde dienen mittlerweile mehrere Unteroffiziere mit Migrationshintergrund – und ein Offizier.

Alles paletti? Vor drei Jahren sorgte der Fall eines muslimischen Soldaten für mediales Aufsehen, der seine Grundausbildung bei der Garde absolviert und sich nach Ende seines Wehrdienstes nach Afghanistan abgesetzt hatte. Wie profil vor einigen Monaten berichtete, hatte sich ein 20-jähriger Austro-Dschihadist in Syrien ausgerechnet während seiner Zeit beim Bundesheer radikalisiert – dort spricht man von Einzelfällen, die das zuständige Abwehramt abkläre, so wie Links- oder Rechtsextremismus-Verdacht.
Wer sich Integration als schöne Gerade vorstellt, wird zwangsläufig enttäuscht. Sie ist voller Widersprüche, Rückschläge gehören dazu. Soziologe Güngör beobachtet eine „Re-Ethnisierung“ der zweiten und dritten Generation: Man zieht sich auf die Ethnie zurück und wertet die anderen gleichzeitig ab, auch wenn das angesichts des ethnischen Durcheinanders der heutigen Bevölkerung reichlich unzeitgemäß erscheint.
Der Autor Ernst Schmiederer veranstaltet Schreibworkshops an Schulen. Unter dem Titel: „Wir. Berichte aus dem neuen Österreich“ erschienen die Erzählungen der Schüler im „Wieser-Verlag“. Ihre Namen könnten einem Telefonbuch der Monarchie entstammen. Ein Viertel der Einwohner Wiens hat heute einen ausländischen Pass. 55 Prozent der Wiener Volksschulkinder sprechen eine andere Muttersprache als Deutsch.
Besonders stolz ist Wien auf die bunte Zusammensetzung seiner Einwohnerschaft nicht, anders als etwa London, das auf seiner Website damit wirbt.

Das mag dazu beigetragen haben, die Probleme kleinzureden. Vor allem Kinder türkischer Herkunft bleiben beim Aufstieg zurück. Doch es sind die Kinder aus armen, bildungsfernen Schichten, die sich in der Schule schwer tun. Der sogenannte Migrationshintergrund kommt nur verschärfend dazu. Und er sorgt für kulturell-religiöse Spannungen.

„Etwas zu tolerant“
Vergangene Woche berichteten Schulinspektoren auf einer Wiener Direktorenkonferenz, immer häufiger würde Lehrerinnen der Respekt verweigert, weil sie Frauen sind. Mädchen aus islamischem Milieu fehlten oft im Schwimm- und Sportunterricht, bei Schullandwochen und Exkursionen. „Wir können weder diese Haltung gegenüber Frauen noch Abmeldungen von Schulveranstaltungen tolerieren“, sagt die Wiener Stadtschulrätin Susanne Brandsteidl.

Sie räumt ein, dass man in der Vergangenheit „etwas zu tolerant“ gewesen sei. Bei Konflikten könnten die betroffenen Lehrer und Lehrerinnen „mit voller Unterstützung des Landesschulrats rechnen“. Private islamische Bildungseinrichtungen werden stärker kontrolliert. In einer Schule in Wien-Floridsdorf, in der die Eltern gegen den Musikunterricht ihrer Kinder protestiert hatten (nach salafistischem Islamverständnis gilt Instrumentalmusik als „unrein“), wurde der Musiklehrer entlassen. Der Stadtschulrat konnte das nicht verhindern. Aber er kann das Öffentlichkeitsrecht zurücknehmen.

Auch im Sport, wo die Herkunft angeblich nicht zählt, ist nicht alles eitel Wonne. Hans Arsenovic ist Landessprecher der Grünen Wirtschaft in Wien und Vizepräsident des SC Wiener Viktoria. Seit einigen Jahren beobachtet Arsenovic, wie die Ethnien in den Wiener Fußball-Unterklassen wieder vermehrt unter sich bleiben: „Es gibt einen albanischen Verein, einen polnischen, einen türkischen, einen serbischen. Bei manchen Spielen möchte ich nicht Schiedsrichter sein.“

Die Wiener Soziologin Hilde Weiss erforscht den Wertewandel der zweiten und dritten Zuwanderergeneration: „Die Eltern haften im Traditionellen, bei etwa der Hälfte ihrer Kinder aber gibt es eine Liberalisierung.“ Vor allem die Mädchen entwinden sich dem Patriarchat und halten ihre persönlichen Freiheiten hoch. Rund ein Zehntel der jungen Muslime aber spricht harten körperlichen Strafen zu und rechtfertigt Gewalt gegen Ungläubige. Autoritäre Tendenzen sind in dieser Gruppe unverkennbar: Kritik an der Religion ist verpönt, das Parlament wird für eine verzichtbare Einrichtung gehalten.

Sind diese Jugendlichen für die Demokratie deshalb schon verloren? In der mobilen Jugendeinrichtung „Backbone“ im 20. Wiener Gemeindebezirk lassen die Jugendlichen nach der Berufsschule erst einmal Dampf ab. Kürzlich sagte einer der tschetschenischen Burschen: „Es halten mich alle für einen Terroristen, dann werde ich halt einer.“ – „Biitte!“, stöhnte ein Streetworker: „Ich halte das Gerede vom Köpfen und Kämpfen nicht mehr aus.“ – „Du weißt doch, wir reden hier so offen, damit wir draußen brav sind“, bekam er zur Antwort.

Seit FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache von einem Besuch beim Präsidenten Kadyrow mit der Botschaft heimkehrte, in Tschetschenien sei alles bestens, wird der junge Tschetschene von der Angst geplagt, abgeschoben zu werden. „Wäre es da nicht besser, gegen Assad zu kämpfen? Dann sterbe ich wenigstens für eine gute Sache.“

„Konstante in der unruhigen Welt bieten“
Oft sind die jungen Muslime nicht nur von Agressionen getrieben, wenn es sie zum „Islamischen Staat“ oder zu anderen fundamentalistisch-gewalttätigen Gruppierungen hinzieht: Man will helfen, respektiert werden, einer guten Sache dienen, Abenteuer erleben. Im Internet werden nicht nur Kämpfer, sondern auch Mechaniker, Köche und Handwerker für den Aufbau von Dörfern gesucht. „Wenn wir die wahren Bedürfnisse herausfinden, bemühen wir uns um andere Möglichkeiten, diesen nachzukommen“, sagt ein Streetworker.

Kürzlich brachten sie die Halbwüchsigen dazu, auf einem Grätzelfest neben älteren Damen selbst gekochte Ringlotten-Marmelade zu verkaufen. Den Erlös spendeten die Jugendlichen für Gaza.

Marmelade einkochen, Leserbriefe schreiben, eine Demo organisieren – alles besser, als sich in der Opferrolle zu vergraben. „Statt gleich hysterisch zu werden, sollten wir uns erinnern, worum es Jugendlichen geht: provozieren, Grenzen, Anerkennung. Das war früher nicht anders als heute“, sagt „Backbone“-Leiterin Manuela Synek.

In Bischofshofen leben Menschen aus 50 Nationen, die Bezirkshauptstadt des Pongau setzt auf Integration vom Kindergarten bis zur Freiwilligen Feuerwehr. Dass im heurigen Sommer türkischstämmige Burschen mit dem Slogan „Ich bleib Ghetto“ auf schwarzen Kapuzenjacken, „Fuck Israel“-Plakaten und Palästinaflagge ein israelisch-französisches Freundschaftsspiel stürmten, kam wie ein böser Traum.

Inzwischen wird gegen elf junge Männer – der jüngste 17, der älteste 25 Jahre alt – ermittelt, ihnen wird Verhetzung vorgeworfen. Zwei Israelis wurden im Tumult auf dem Fußballplatz verletzt. Als Motiv nannten die Verdächtigen Protest gegen den Gaza-Konflikt.

Hansjörg Obinger, Bürgermeister der SP-dominierten Stadt, sagt, die Jugendlichen seien „unpolitisch aufgewachsen und emotionalisiert. Wir müssen ihnen eine Konstante in der unruhigen Welt bieten.“

Dass die Brandherde der Welt in österreichischen Schulklassen, Fußballklubs und Jugendzentren eine Rolle spielen, ist eine neue Herausforderung. Den Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen etwa wird man kaum mit Aufklärung über das NS-Regime eindämmen können. Ein gemeinsames Geschichtsverständnis kann es nicht mehr geben, wenn – wie in Wien – die Hälfte der Bevölkerung aus einem anderen Kulturkreis kommt. Daran werden wir uns gewöhnen müssen.

+++ Lesen Sie hier: Der Soziologe Kenan Güngör über Gewalt und die Frage, warum es derzeit schwer ist, nicht islamophob zu sein +++

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges